Protestdemo vor der Privatwohnung des politischen Gegners? Das geht zu weit. So haben wir es uns vor kurzem mehrheitlich versichert, als Neonazis Bürger so zu solchen Aufmärschen anstifteten.
Neulich sollten Pläne für die Aufnahme von Flüchtlingen durch Psychoterror gegen Kommunalpolitiker durchkreuzt werden. Heute geht es um etwas sehr viel Harmloseres. Um meine Rechte als Verbraucher. Mein gutes Recht, im Laden zu kaufen und liegen zu lassen, was ich will. Es geht weder um Hehlerware noch um illegale Drogen, sondern das Allerweltssortiment von Klamotten, über Kaffeebohnen bis zum Elektronik-Allerlei.
Ob es wirklich mich treffen wird, in zwei Tagen, am 1. Mai, oder ein anderes, ebenso unschuldiges Zufallsopfer? Da zuckt mein Informant etwas ratlos mit den Schultern. Deshalb macht ein Hilferuf bei der Landpolizei auch wenig Sinn. Die Handvoll Beamter hat anderes zu tun, als vor meinem Heim auf gut Glück Wache zu schieben.
Dabei sind das schon ziemlich Radikale, die da im Anmarsch sind: Aktivistinnen aus Bangladesh und Pakistan, vermutlich alles Muslimas, illegale Gewerkschafter aus Mittelamerika. Ein paar heißblütige Bauern aus Westafrika sollen darunter sein. Chinesisch aussehende Frauen, aber nicht nur aus China.
Die wollen, was alle wollen am 1. Mai: mehr Geld in der Lohntüte! Außerdem erheben sie eher merkwürdige Forderungen, mit denen ich nun rein gar nichts zu tun habe: Frauen fordern das Recht auf Pinkelpausen in der Fabrik und schonende Behandlung Schwangerer; Männer besseren Schutz vor Agrargiften auf ihren Bananen- oder Kaffeeplantagen. In irgend welchen Fabriken soll ich mir um Fluchtwege und Feuerlösch-Einrichtungen den Kopf zerbrechen. Und alle schreien sie nach freien Gewerkschaften. Na, dann sollen sie doch welche gründen. Bei uns bleibt ja sogar die Lokführer-Gewerkschaft unbehelligt. Klamotten, Kaffee, Kakao, Bananen, Alltags-Elektronik, Spielzeug: das ist schon eine seltsame und etwas beängstigende Koalition, die sich da zum 1. Mai angeblich vor meiner Haustür treffen will.
Wie um Himmels Willen bin ich in ihr Visier geraten? Mein Informant hat da seine Lesart: den zornigen Demonstranten ist gemeinsam, dass ihre Bosse für deutsche Unternehmen produzieren, bzw. dass sie ihre Ernten an den hiesigen Handel verkaufen. Na ja, und die Löhne sind halt mickerig. Deine Kinder kriegst du damit nicht satt. Außerdem gibt es einen ganzen Rattenschwanz weiterer Missstände.
Da empfiehlt es sich schon, mal mit den deutschen Großkunden über ein paar Korrekturen in den Lieferverträgen zu reden. Zumal die Arbeitslöhne, bei allem, was von da unten kommt, ja nur einen kleinen Bruchteil deutscher Ladenpreise ausmachen. Gewerkschaften, Kirchen, Fair-Handelsleute, Regierung, alle sind sie dafür!
Nur das Volk der Schnäppchenjäger eben nicht! Die, lässt uns das unschuldige Management vom Klamottenkonzern bis zum Elektronik-Unterhalter wissen, zwingen uns, auch noch den letzten Cent
in der gnadenlosen Preisschlacht herauszuquetschen. Diese Schnäppchenjäger behandeln deutsche Legehühner und Mastschweine um keinen Deut barmherziger als pakistanische Näherinnen oder brasilianische Kinderarbeiter auf Orangensaft-Plantagen. So ist das Leben! Also akzeptiert die Realität und jammert nicht.
Deutschlands Weltmarkt-Einkäufer haben ihr Alibi und posaunen es Talkshow für Talkshow hinaus. Steht ja schon im Grundgesetz: alle Staatsgewalt geht hierzulande vom Volke aus. Und wenn es ausbeuten will? Wer sind wir wohlmeinenden Unternehmer, es daran zu hindern? Wir sind den Schnäppchenjägern ja selbst auf Gedeih und Verderb ausgeliefert!
Ob es am Ende sogar Manager auf Dienstreise waren, die am Rande von Verhandlungen mit ihren Geschäftspartnern Belegschafts-Vertreterinnen den Tipp gegeben haben: „Den Verbrauchern bei uns müsst ihr Dampf machen. Wir sind die falsche Adresse.“
Der Rest ist nicht besonders kompliziert: alternative Geldgeber – was weiß ich – Linkspartei, Bürgerinitiativen, geheime Kirchentöpfe, irregeleitete Gewerkschafter, Crowd-Funding unter Weltverbessern haben hundert 1. Mai-Flugtickets für Deutschlands wütende Dritte-Welt-Arbeiterinnen und -Arbeiter finanziert. Die sollen und wollen Deutschlands gnadenlosen Schnäppchenjägern jetzt zum ersten Mal die Meinung sagen. Wenn in diesem reichen Land wirklich alle Macht vom Verbraucher ausgeht, muss man das ja wenigstens mal versuchen.
Also sind sie möglicherweise im Anmarsch. Die hundert Zornigen, aufgefüllt mit dem Mehrfachen an einheimischen Sympathisanten. Weil die Polizei nicht rechtzeitig zur Stelle sein wird, lege ich mir schon mal ein paar Tatsachen zurecht, um den Leuten gut zuzureden: Fairhandels-Kaffee ist bei uns Standard, und der Löwenanteil der wenigen Klamotten, die ich noch kaufe, stammt auch aus Quellen, deren ich mich nicht zu schämen brauche. Gut, über unsere häusliche Elektronik kann ich nichts sagen. Und über anderes schweige ich auch besser.
Aber vielleicht sieht die Welt morgen früh nach der Dusche sowieso wieder ganz anders aus als jetzt im Halbschlaf.