Amnesty International hat gemacht, wozu seine Rolle und seine Reputation verpflichten. Die Mutter der Menschenrechtsorganisationen hat die weltweiten Flüchtlingszahlen des Jahres 2014 addiert und aus dem Ergebnis, 57 Millionen Menschen, einen Alarmruf gemacht. So viele sind das, wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, also seit 70 Jahren, seit zwei Generationen, nicht mehr!
Ich müsste zu den ZeitgenossInnen gehören, die sich Partei ergreifend, in ihrem persönlichen Umfeld schallverstärkend, hinter diesen Alarmruf stellen. Nicht, weil ich zur Generation der Flüchtlingskinder von 1945 gehöre. Das tut merkwürdiger weise nichts zur Sache. Nein, während 50 dieser 70 Jahre seither, habe ich sehr, sehr viele Flüchtlinge getroffen und persönlich kennengelernt. Zuerst eher zufällig, dann über Jahrzehnte als Konsequenz und Bestandteil meiner Arbeit und schließlich als engagierter Ruheständler. Manches Land dieser Erde ist mir erst dadurch etwas mehr zum Begriff geworden, dass ich gezwungen war, mit Behördenvertretern, Medien- und Kirchenleuten über Flüchtlinge von dort zu sprechen.
Niemand muss mir erklären, dass Flucht eine der haarsträubensten Entscheidungen ist, zu denen sich ein Mensch gezwungen sehen kann. Freilich sitzt bei mir auch die Gewissheit felsenfest, das unser Asylartikel im Grundgesetz samt der heute wirkenden Auszehrung durch die Ausführungsgesetze, beileibe nicht alles beschreibt, was einen armen Teufel im wirklichen Leben entwurzelt und in die Flucht schlägt. Zum tausendsten mal: Esel, Hund, Katze und Hahn im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten sind die ehrlicheren, weil lebensnäheren Asylexperten, verglichen mit unseren Ämtern und Gerichten. Ihr Weckruf: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall.“
Warum dann, lässt mich der engagierte Alarmruf von AI so geschäftsmäßig ruhig bleiben? Ich denke, es sind mein Steinzeit-Hirn und meine Steinzeit-Psyche! Die Möglichkeit, gigantische Datenmengen zu erfassen und in Zahlen auszudrücken, ist gewiss eine zivilisatorische Errungenschaft, auf die wir nicht mehr verzichten wollen und können. Den Mathematikern des frühen Islam sei Dank für ihre Nachhilfestunden! Aber nicht alle Ergebnisse unserer Additionen sind mit unserem seelischen Fassungsvermögen kompatibel. Es sollen die Hopi im Süden der heutigen USA gewesen sein, die meinten, eine menschliche Gemeinschaft mit mehr als 3.000 Individuen komme an ihre Grenzen, was das zuträgliche Sozialverhalten ihrer Mitglieder angeht.
Wie dem auch sei, ich erinnere mich meiner Versuche vor 50 Jahren, eine Community, wie man heute auf denglisch sagt, innerhalb von zwei bis drei Jahren individuell kennenzulernen. Es handelte sich um die Mitgliedschaft einer evangelischen Kirchengemeinde im Ruhrgebiet, der ich damals zu Diensten war. Ich war nicht faul, aber 8.000 Leutchen fanden in meinem Gefühlsleben einfach keine Bleibe.
Und dann 57 Millionen, vermutlich bei konservativer Bewertung der Quellen? Wie soll ich für 57 Millionen Menschen Mitgefühl und professionelle Würdigung ihrer Fluchtgründe gleichzeitig aufbringen, wenn ich schon mit 8.000 evangelischen Deutschen hoffnungslos überfordert war?
Ja, fragt die hinterlistige Stimme: sind 57 Millionen überhaupt eine echte Skandalzahl? Schließlich ist das weniger als ein Prozent der Menschheit! Da stehen in unserer Dorfstraße im mitteldeutschen Krisengebiet anteilig deutlich mehr unbewohnbare baufällige Häuser! Und der Vergleich mit 1945 hinkt sowieso. Schließlich lebten um den Tag von Hiroshima herum auf Erden halb so viele Menschen wie heute. Das muss ja wohl in das Urteil über das Jahr 2014 eingehen!
Die andere Zahl, die AI der Politik und uns Bürgern an den Kopf wirft, ist auch nicht ganz koscher: in 35 Staaten herrschten heutzutage bürgerkriegsartige Verhältnisse, die Menschen in die Flucht treiben. Noch einmal 1945: als die UNO aus der Taufe gehoben wurde, gab es vielleicht ein Drittel so viele Staaten, wie dieser Tage!
Ab einer gewissen alltags-untauglichen Größenordnung werden korrekte Zahlen unpersönlich, weil sie nicht mehr durch das Nadelöhr unserer Vorstellungskraft und unserer Fähigkeit zur Solidarität passen. Die Mächtigen unserer Zeit, wenigstens ein gemeingefährlicher Teil von ihnen, haben längst gelernt, auf diese Karte zu setzen. Publiziert ruhig eure Horrorzahlen! Die Leute werden achselzuckend, allenfalls ratlos, darauf reagieren.
Dass es mir etwas anders geht, liegt nicht an überentwickelter Mitleidsfähigkeit. Es liegt an den Herren Singh aus Indien, an Mr. Koo aus Korea, an Pablo aus Chile, an dem Kurden Mustafa aus der Türkei, an Peter aus Sri Lanka und an Devika, ebenfalls von dort, an Tomas aus dem damaligen Sudan, den ich nach seinem Selbstmord im Abschiebeknast beerdigt habe, an Ibrahim aus dem Libanon; an Auguste aus dem Kongo; an Ali aus dem Irak, an der iranischen Familie G., an Maria von den Philippinen, an Mohamed aus Pakistan. Eine Fotogalerie, ein Stimmenarchiv in meinem Kopf. Flüchtlinge, die ersten noch in unserer Wohnung, danach die meisten in meinen wechselnden Büros. Menschen, tatsächlich, wie du und ich, was die Charaktere anging: Nicht wie du und ich, was die Traumata ihrer Fluchten und ihrer Asylverfahren ausmacht. Gemeinsam haben sie es erreicht, dass ich mich nicht an abstrakte 57 Millionen halten muss, sondern an echte menschliche Erfahrungen, die mir zuteil geworden sind.
Über Jahrzehnte tausende von Flüchtlinge persönlich kennenlernen, dass ist keine vernünftige Empfehlung für mündige Bürgerinnen und Bürger von PRGIDA-Land. Das war biografischer Zufall. Aber der eine Flüchtling, die eine Familie, die eine ihnen zugewandte Bürgerinitiative findet sich im Frühjahr 2015 in jeder deutschen Stadt. Mit ihnen Kontakt aufzunehmen, wird für jede und jeden uns möglich sein, denen der Sinn danach steht.