Ich stelle mir vor, wie sie überall in Europa und dem Rest der Welt in den Staatskanzleien Überstunden machen, damit die Post rechtzeitig vor dem 8. Mai in Berlin im Briefkasten liegt.
70 Jahre nach Ende des Nazikrieges läuft die Antragsfrist für Entschädigungsforderungen an mich und meine Landsleute ab. Ganz so unrealistisch ist das nicht, wenn man mal die ursprünglich im Spiegelsaal von Versailles 1919 beschlossenen Zahlungspläne im Blick auf den 1. Weltkrieg zugrunde legt. Auch da waren Zahlungen über Generationen ins Auge gefasst.
Da nach Posteingang bearbeitet wird, sind diesmal die Griechen als erste am Drücker. Die haben mit ihren 278 Milliarden € eine reale Chance, aus dem deutschen Volksvermögen zufrieden gestellt zu werden. Falls die Belgier, die Tschechen und Slowaken eine ähnliche Schadenssumme errechnen und die Niederländer wegen der größeren Bevölkerung, sagen wir 400 Milliarden, dann wird es schon schwieriger. Das geht dann den Enkeln und Urenkeln der Nazis schon an die privaten Lebensgrundlagen.
Ja beeilt euch, ihr kleineren Nationen. Denn wenn die Polen, Franzosen, Ukrainer, Weißrussen und Russen ihre Einschreiben im Kanzleramt abliefern, ist nur noch ein gewaltiges Krachen und Donnern zu hören. Die Gesamtsumme, hoch im zweistelligen Billionenbereich, ließe die Schuldner-Gesellschaft augenblicklich kollabieren und ihrerseits zu einem Fall für Nothilfeprogramme werden.
Das simple Gedankenspiel erfüllt seinen Zweck: Kriegsschäden, Kriegsleiden sind in Realpreisen unbezahlbar. Punktuell, eingegrenzt auf konkrete Tatbestände, ist dies und jenes möglich. Aber den Wiederaufbau total verwüsteter Provinzen vom besiegten Kriegsgegner bezahlen zu lassen, dieser politische Leitgedanke der Französischen Republik ist schon nach 1918 verhängsnisvoll gescheitert. Erst recht blieb es eine Illusion, der Besiegte werde alles menschliche Leid lindern müssen, soweit das mit Geld zu machen ist.
Unterstellt, der Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des sog. Großdeutschen Reiches wäre auch nur eine Mitverantwortung für das Schicksal der Hälfte aller Kriegstoten von 1939-1945 und ihrer Familien nachzuweisen – wir sprächen dann von 25 Millionen Toten und zweihundert Millionen Nachkommen – jede Rechnung würde sich augenblicklich in Schall, Rauch und Peinlichkeit auflösen.
Darum werden die Abrechnungen auch nicht zum 8. Mai 2015 in Berlin eingehen. Eine Beruhigung, etwa im Blick auf meine Rente, ist das nicht. Ich fühle stattdessen einen Stich in der Seele. Die finanzielle Wiedergutmachung, eine der gesellschaftlichen Regeln, die Unrecht weitgehend in Ordnung bringen können, bleibt für uns Nachgeborene des Verbrecherstaates unrealistisch.
Millionenfach haben Opfer Hitlerdeutschlands im letzten halben Jahrhundert wieder und wieder beteuert, dass die Kinder und Enkel keine Schuld trifft, keine Schuld treffen kann. Aber es muss sich nur eine einzige Regierung aus Kalkül und Überzeugung dafür entscheiden, spektakuläre Forderungen in die Welt zu setzen, schon muss uns klar werden, dass wir mit unbezahlbarer Schuld hantieren, fiskalisch wie moralisch.
Alles deutet darauf hin, dass zwischen Berlin und Athen demnächst über die Rückzahlung des Zwangskredites aus der Besatzungszeit gesprochen werden wird. Also über einen überschaubaren und nicht völlig strittigen kleineren Teilbetrag. Wie lange geschichtsbewusste Griechen allerdings brauchen werden, um die politische Forderung nach 278 Milliarden, etwa dem 15-fachen, innerlich abzuschreiben, weiß ich nicht.