Selten waren sich Deutschlands Nachrichtenredaktionen so einig, alle Medien, von konservativ bis ziemlich links kamen bei den Nachrufen auf Altbundespräsident Richard von Weizsäcker auf seine Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1945 zu sprechen. Auch, wenn sie bei nur 30 Sekunden Sendezeit alles andere weglassen mussten, von dieser Rede war die Rede. Auch für uns Deutsche war der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung, habe der Präsident mutig konstatiert. Mit diesem Statement habe er Geschichte geschrieben, urteilten viele Meinungsmacher, die seinerzeit noch ziemlich junge Leute, wenn nicht gar noch ungeboren waren.
Ich weiß nicht, wie viele Bürger der alten Bundesrepublik die Rede seinerzeit live gehört haben. Gewiss viele, aber ebenso gewiss nicht allzu viele. Ein Straßenfeger war die Erinnerungsveranstaltung im Parlament nicht; einfach, weil solche Veranstaltungen das niemals sind. Dafür ist der gefühlte Abstand zwischen großer Politik und Normalo-Alltag denn doch zu groß.
Ich habe zugehört, abgesehen vom persönlichen Interesse, weil das Ereignis in das Spektrum meiner beruflichen Pflichten als kirchlicher Mitarbeiter fiel. „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ lautete seit 1983, seit der Weltkirchenkonferenz im kanadischen Vancouver die Vision, zugleich die konkrete Zielvorgabe, für die Betätigung von Christenmenschen und Kirchen in der Endphase des 20. Jahrhunderts. Klar, dass uns diese Herausforderung jedes Vorbeimogeln an einer wahrhaftigen Deutung des Sieges über den deutschen Terrorstaat verbot.
Allerdings waren wir viele Millionen, auch außerhalb der christlichen Kirchen, für die 1985 schon lange feststand, dass der 9. Mai 1945 auch, vor allem Befreiung bedeutet hat. Wir damals Jüngeren haben spätestens seit den 60er Jahren den Überlebenden der Mordindustrie zugehört. Namen und Gesichter sind in meinem Gedächtnis nicht erloschen. Neben den Opfern im wörtlichen Sinn standen die nicht unmittelbar Verfolgten, die aber in der Deutung des 8. Mai 1945 ein klares unbeirrbares Urteil hatten. Eine ziemlich lange Namensliste habe ich auf Abruf im Kopf. Den späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann lernte ich als Freund meines Ausbilders kennen. Sein lakonischer Satz „Die Schule der Nation ist die Schule“, und nicht die Armee, war für mich später Gold wert, auch wenn er eher beiläufig, und nicht für´s Geschichtsbuch gesagt war.
Die sog. Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche von 1965, deren Sache auch der Christ Richard von Weizsäcker vor seiner Politikerkarriere gefördert hat, war ein unmissverständlicher Wegweiser. Leute, die ihre Kernaussagen in lokaler Öffentlichkeit vertraten, wurden nicht selten kräftig durchgeschüttelt.
Als Richard von Weizsäcker im Bundestag 1985 klarstellte, was längst klar war, da konnte er sich auf Millionen von Landsleute verlassen, die, von Jahr zu Jahr mehr werdend, mit ihrer Meinung und Haltung in ihrem Lebensumfeld nicht hinter dem Berge gehalten hatten. Wir alle, vor allem, wenn uns die Leute in regionalen oder weltanschaulichen Teilöffentlichkeiten aufs Maul schauten, hatten mitunter seit 30 Jahren bekannt, was nun den Nachruhm des Altbundespräsidenten begründet.
In den Jahren vor Weizsäckers Rede waren wir durch die Friedenserziehung der sogenannten Friedensbewegung gegangen, jenen Jahren unter der Fuchtel der sowjetischen atomaren Aufrüstung und des in den Folgen unabsehbaren NATO-Doppelbeschlusses. Wer hätte da demonstrieren und gar seine kleinen Kinder mitnehmen können und gleichzeitig die Kapitulation der Großdeutschen Wehrmacht 1945 beklagen?
Wie die seelische Verfassung der DDR-Deutschen im Blick auf die zeitgeschichtliche Deutung des 9. Mai 1945 aussah, das erklären wohl besser die seinerzeit Betroffenen.
Aber als Alt-BRD-Präsident musste Richard von Weizsäcker keinen politischen Drahtseilakt ohne Fangnetz darunter riskieren. Selbst Kanzler und Historiker Kohl dürfte wenig einzuwenden gehabt haben. Das mindert die Dankespflicht der Nation an „König Richard“ um keinen Deut, dafür dass er gesprochen hat, und wie er es tat.
Aber dass von Weizsäckers Worte Bestand hatten, politische Spielräume schufen, auch in Jahren nach 1989, das war die Frucht eines kollektives Lernprozesses, der am 8. Mai 1985 in Verstand und Gewissen von Millionen längst Wurzel geschlagen hatte. Die, die persönlich um Richard von Weizsäcker trauern, dürfen davon ausgehen, dass seine Klarheit des Urteils diesen Lernprozess politisch aktenkundig bzw. hoffähig gemacht und kräftig gefördert hat.
Aber wir einfachen Bürgerinnen dürfen nicht vergessen, dass wir eine Menge vorzuarbeiten haben, bevor vertrauenswürdige Politiker die „Lage der Nation“ nachhaltig und wirkungsvoll zu deuten vermögen.