„Satt ist nicht genug!“ Wer´s nicht glauben mag, frage den Hänsel, den bemitleidenswerten gefangenen Jungen, der sich von der Hexe im Pfefferkuchenhaus fett füttern lassen muss. Manches mal schon sind nicht nur Hexen, sondern auch verrückte kleine und große Tyrannen auf die Idee verfallen, Wehrlose überreichlich zu ernähren, um danach mit ihnen ihre Spielchen zu treiben. Auch unfreie Gladiatoren im Circus Maximus und hunderttausende von Rudersklaven antiker Marinen bekamen reichlich Kalorien zugeführt, damit sie wunschgemäß funktionierten. Die Beispiele sind beliebig.
Aber solche Perversionen der Macht hat die Aktion „Brot für die Welt“ wohl nicht im Sinn, wenn sie ihr neues Arbeitsjahr ab dem 1. Advent 2014 unter das Leitwort „Satt ist nicht genug“ stellt.
Obwohl, die Frage ist schon erlaubt, wie viel die globale Fast Food- und Convenience-Food-Industrie mit unverblümter profitgeiler Machtausübung zu tun hat. Sie schafft ja mit milliardenschweren Werbe-Etats von New York über Berlin bis neuerdings Peking das Zerrbild eines Schlaraffenlandes, in dem Essen zu einem spottbilligen, mühelosen, sozial frei in der Luft hängenden Privatvergnügen wird. Um die sozialen, menschenrechtlichen, ökologischen Nebenwirkungen mögen sich dann Politik und NGO´s kümmern.
Wenn ich „Brot für die Welt“ recht verstehe, geht es den Leuten um Ernährungssicherheit für die Mehrheit unserer Zeitgenossen in den Ländern des Südens; um jene 75% aller Kinder, Frauen und Männer, für die unsere kindische Kochshow-Welt ein Wolkenkuckucksheim bleibt; für die 40%, in deren Familienetats der Posten „Ernährung“ alles andere erdrückt. Auto, Urlaub, Klamotten kannst du da vergessen; wichtiger: auch Arzt und Schule. In dem einen Jahr, in einer Saison, reicht es so gerade. Im nächsten Jahr führen Dürre, Arbeitslosigkeit, Börsenspekulation, Korruption, – weiß der Teufel was – dazu, dass eine von den täglichen Mahlzeiten gestrichen werden muss; dass billigste bloße Kalorienlieferanten an die Stelle ausgewogener Versorgung mit den Lebensmitteln treten, die unser Allesesser-Organismus braucht.
Die Bilder jener Menschenkinder, die auf der Flucht oder im ganz normalen Armutselend ihrer Familien ihre ausgezehrten oder aufgeschwemmten Körperchen sehen lassen, vermitteln ein kaum überbietbares Grauen. Wir Deutschen kennen solche Körper nur von Erwachsenen, von KZ-Befreiten, Menschen mit sehr ungewisser Überlebenshoffnung. Die wenigen versteckten Kleinkinder in den Lagern waren schon lange tot, bevor die Kriegsfotografen der Befreier kamen.
In der Welt des Hungerkrieges sind die Kinderbilder zum Synonym für das Versagen von uns allen geworden. Sie haben Spenden fließen lassen und zugleich eine resignierende Abwehrhaltung genährt. Deshalb haben sie auch als Werbehelfer längst ausgedient.
Vor allem haben sie uns unaufmerksam gemacht für die Pyramide des Hungers, von der der Hungertod nur die Spitze ist. Darum ist es höchste Zeit, dass wir uns lösen von der Fixierung auf eine einzige Zahl: die Zahl der Mitmenschen, die es von der UNO Schwarz auf Weiß bekommen, dass sie hungern; dass sie also ganz offiziell an einer tödlichen Armutskrankheit leiden. Seit diese Zahl, gestützt auf die Angaben von Regierungen, seit wenigen Jahren unter die symbolische Milliardengrenze gesunken ist, scheint alles nur noch halb so schlimm: das Ozonloch über der Antarktis schließt sich. Fracking lässt uns wieder in Öl baden. Und unter Todesrisiko Hungernde gibt es auch nur noch gerade mal zehnmal so viele wie Bundesbürger. Keine Panik Leute, für jedes Problem gibt es eine Lösung, wenn wir nur ein bisschen Geduld haben! Das sitzen wir aus!
Dass sich unter diesem Horrorgipfel von 800-1.000 Millionen mehr oder weniger hoffnungsloser Fälle ein Überlebenskampf nahezu der halben Menschheit abspielt, von dessen alltäglichen Anforderungen wir keine Ahnung haben, gehört spätestens jetzt in unsere Parlamente und Wohnzimmer. Denn unsere Kinder werden damit nicht leben können. Satt sein, irgend wie, ist eben nicht genug. Flüchtlinge und Waffenträger vieler Kriege unserer Tage sind nicht verhungert. Aber Hoffnung hatten sie auch keine mehr. Die Hungerlöhne unserer Schneidermädchen in Bangladesh erlauben nun mal nur Mangelernährung.
Die Liste der unmittelbaren Wechselwirkungen zwischen unseren Ansprüchen, Konsumgewohnheiten, Waffenexporten, Vertragswerken und den Küchen der einfachen Leute „da unten“ ist ellenlang und zwingend. Nicht nur der nackte Hunger, auch die unsichere, minderwertige Ernährung ist kein Schicksal, sondern wird von Menschen gemacht.
Fast niemand auf unserer, der Nutznießer-Seite, will den Vertriebenen, Unterbezahlten, Rechtlosen, Landlosen, Arbeitslosen, Enteigneten, Umweltflüchtlingen, Elternlosen usw. usw. etwas Böses. Man kennt sich ja nicht und hat nichts miteinander zu tun.
Aber diese zutreffende Unschuldsbeteuerung wird nicht reichen. Die Waagschalen der Ernährung samt aller anderen materiellen und rechtlichen Ansprüche an das Leben werden sich in naher Zukunft für jedermann sichtbar in Richtung Gleichgewicht bewegen müssen.
Das meiste davon wird mit Hilfe des Rechts – und nur ein kleiner Teil mit unverzichtbarer Katastrophenhilfe zu bewerkstelligen sein. Denn gutes Recht reicht auch bis in die Küchen.
Menschen die dort satt werden an Körper und Seele, sind stark genug für den Frieden.