Es ist wohl das erste Mal, dass ich mir einen Termin vormerke, den ich mit größter Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben werde. Was heißt dann vormerken? In dieser Sache so reden und handeln, als würde ich sie noch erleben. Als müsste oder dürfte ich am Tag X Bilanz ziehen, zusammen mit allen anderen Beteiligten. Die Sache, um die es geht, ist die Armutskrankheit HIV-AIDS und der Termin das Jahr 2030.
Hineingeplatzt in mein Leben ist Aids Ende der 80er Jahre. Ich habe das Thema wahrlich nicht gesucht. Es war einfach mein kirchlicher Arbeitsplatz, ein etwas exotischer, der der Öffentlichkeit gelegentlich Gesprächsstoff lieferte. Deshalb wohl fand erst ein, dann noch ein und dann in größeren Abständen immer noch ein junger Mann den Weg in mein Büro. Mit der erdrückenden Last eines positiven HIV-Tests auf der Seele forderten sie mich heraus – damals in der anderen Zeit, als Betroffene noch nicht hoffen durften, mit der Krankheit zu leben. Wenn ich je ahnungslos und hilflos war, dann damals, als ich von Aids und und dem Leben mit der Diagnose noch nichts begriffen hatte.
Die Narrenfreiheit meines Jobs hat es mir dann möglich gemacht, am Netzwerk der späteren Aidskampagne mitzustricken. HIV/Aids als Damoklesschwert vor allem über afrikanischen Gesellschaften. Krankheit der Armen, zum Flächenbrand angefacht durch Kriege und Bürgerkriege, durch die Profitgier von Pharmakonzernen, durch das Versagen staatlicher Gesundheitsdienste, durch frauenfeindlichen Sexismus, durch theologische und seelsorgerische Kurzsichtigkeit von Kirchen.
Die Zeit, als sich in Afrikas Kirchen endlich der Satz herumsprach: „Die Kirche hat Aids“, bleibt mir unvergesslich. So etwas ist Theologie auf prophetischem Niveau.
Unvergesslich bleiben dem Spielkind in mir freilich auch die ziemlich sinnlichen Kampagnen, mit denen wir versucht haben, unseren Landsleuten und den Verantwortlichen unter die Nase zu reiben, worauf es im Kampf gegen Aids ankommt. Ich sehe uns noch übermannshohe Fantasieburgen aus symbolischen Medikamentenschachteln vor die Berliner Gedächtniskirche und andere Kulturgüter platzieren. Bezahlbare Medikamente durch Verzicht auf Patentgebühren lautete die Forderung.
Der alters-notorische Blick zurück!
Dabei geht es doch um diesen Termin mit längerer Vorlaufzeit. 2030, so beschloss es die kürzliche UN-Welt-Aids-Konferenz in Melbourne – ohne die auf dem Weg dorthin ermordeten Delegierten im über der Ukraine abgeschossenen Flug MH 17 – 2030 sollen die Völker den Sieg über die einstmals drohende Pandemie feiern können. Damit das globale Freudenfest steigen kann, kommt es auf die nächsten fünf Jahre an, bis zum Ende des Jahrzehnts. Bis dahin müssen wir die Messzahlen 90-90-90 in den Griff bekommen. Diese Zeitspanne hört sich für einen 75jährigen nicht mehr ganz so vermessen an. 90-90-90, was da tönt wie ein abstruses Modelmaß, klingt aufgelöst auch für uns Laien völlig einleuchtend:
bis 2020 sollen 90% aller Menschen, die mit dem HI-Virus leben, das auch wissen. Heute gilt das erst für weniger als die Hälfte.
90% Prozent wiederum von diesen 90%, die dann Klarheit haben, sollen die heute mögliche Therapie bekommen – egal wo sie wohnen; egal ob gut bei Kasse oder bettelarm.
Schließlich, bei 90% der Behandelten soll das Virus im Test unter der „Viruslast-Nachweisgrenze“ liegen. Diese Menschen bleiben auch dann von den Medikamenten abhängig, aber sie haben das mögliche Maß an Rehabilitation erreicht.
90-90-90, wenn die Aids-Bilanz des Jahres 2020 tatsächlich so lauten wird, dann bleibt noch ein Jahrzehnt bis zum Siegesfest 2030. Auch im dritten Jahrzehnt des Jahrhunderts werden dann noch Millionen Frauen, Männer, Jugendliche, Kinder und Säuglinge im Netz der medizinischen Hilfe aufgefangen werden müssen. Aber das Ziel ist dann realistisch und in Reichweite.
Andererseits klang aus Melbourne der Klageruf von der „HIV-Müdigkeit“ in den deutschen Advent. Kein Wunder in Zeiten von Ebola. Aber macht es viel Sinn, ausführlich die Tatsachen auszubreiten, die zu zwei, drei zwangsläufigen Schlussfolgerungen führen müssen? Dass Aids auch Teil unserer deutschen Gesellschaft ist und noch viele Jahre bleiben wird, Ebola nicht. Dass der Preis an Menschenleben, Menschenleiden und an menschlichen Gütern aller Art im Fall Aids unermesslich höher ausfallen wird als bei Ebola.
Das grauenvolle Leiden eines jeden Ebola-Opfers wird dadurch um keinen Deut erträglicher. Ob viele tausend oder viele Millionen Opfer, beide Krankheiten bleiben in schrecklicher Eindeutigkeit Krankheiten der Armut.
Und gegen die „HIV-Müdigkeit“ kommt mir das aktuelle Vorhaben der von vielen Kirchengemeinden mit getragenen Aids-Kampagne wie gerufen „Kinder ohne Aids!“. Infizierte Kinder, fast alle in Armutsregionen der Welt zu Hause, sind am allerschlechtesten mit Medikamenten versorgt, einfach weil es in Europa und Nordamerika nur ganz wenige in Frage kommende kleine Patienten gibt. In Afrika sind es drei Millionen. Für sie endlich nach Wirkstoffen, Darreichungsformen usw. geeignete Medikamente zu entwickeln ist eine Frage von Gerechtigkeit und Menschlichkeit.
Meine Kirchengemeinde zum Mitmachen bei dieser Lobbyaktion zu gewinnen, bin ich sicher nicht zu alt.
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