Notgedrungen kümmere ich mich auf meine alten Tage mehr um meinen Körper als vor 50, 60 Jahren, als das einfacher gewesen hätte. Aber wenn Olympia im Vierjahrestakt näher rückte, war der unsportliche Kerl, der ich war, gespannt wie ein Flitzebogen. Seit „meiner“ ersten Sommerolympiade 1952 in Helsinki – in memoriam Superläufer Emil Zatopek mit dem nur scheinbar schmerzverzerrten Gesicht – habe ich deutsche Medaillen gezählt. Einige Olympiaden lang durften wir die Siege von DDR-Staatsamateuren mit auf ein gesamtdeutsches Konto buchen. Dann kamen Jahrzehnte getrennter Buchführung und Sieger-Hymnen. Sie waren, wie erinnerlich, dazu angetan, die „Minkos“ westdeutscher Olympia-Fans zu päppeln.
Aber da war mir der Widersinn der sog. Medaillenspiegel bei Olympia längst klar geworden. Nicht nur, dass er der sog. Olympischen Idee widerspricht. Wichtiger: der Medaillenspiegel, den fast alle Zeitungen täglich auch aus London übermitteln werden, ist Ausfluss einer wirklich absurden Wettbewerbsverzerrung. Dieses Zerrbild setzt uns üble Vorurteile über Leistungsbereitschaft und Charakter der jungen Menschen all jener Nationen in den Kopf, die bei der großen Show finanziell nicht mithalten können oder wollen.
Unabhängig vom politischen oder wirtschaftlichen System: die großen Konkurrenten des Weltsports nehmen für ihre Medaillenjagd Summen in die Hand, die Dutzende anderer Staaten nicht für Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft zusammen aufwenden können. Und bei Olympia bilden die dann die Folklore-Kulisse, vor der die Superreichen ihren High-Tech-Wettbewerb inszenieren.
Nein, da wird sich der Baron de Coubertin wohl im Grabe umdrehen und – wenn er könnte – seine Idee von Olympischen Spielen der Neuzeit wegen fortgesetztem Missbrauch zurückfordern. Es sei denn… Wie wäre es mit einer Reihe neuer Wettbewerbe, die den derzeit Chancenlosen echte Goldaussichten eröffnen würden? Z.B. Zehn-Kilometer Cross-Country-Wasserholen, hin und zurück; mit 20 Liter-Gefäß auf dem Kopf und Strafpunkten für verschüttetes Wasser? Afrikanische Mädchen wären wohl unschlagbar. Die Radsport-Wettwerbe ließen sich bereichern mit der Rickscha-Einkaufs-Ralley zur Rush-Hour. Jeder Fahrer hat drei übergewichtige Ladies samt 50 Kilo Einkäufen in seiner Kabine. Die Goldanwärter dürften auf den Straßen von Kalkutta zu finden sein. Auch Lastentragen würde sich gut in der Sportschau machen. 100 Kilo Hausrat auf der Olympiastrecke vom Wembley-Stadion zum Buckingham-Palast. Den Sieger machen die Schlepper von Bogotá und Líma untereinander aus. Ich fürchte nur, diese potentiellen Olympioniken haben andere Sorgen, als nach ihren knochenbrecherischen Tagewerk noch spezielle Trainingsrunden einzulegen.
So bleibt Olympia, was es heute ist: ein ansehnliches Spektakel, umwabert von einem ideologischen Weihrauch, der uns nicht den Verstand vernebeln darf. Meine Olympia-Regeln: Ich werde mich nur dann vors Pantoffelkino setzen, wenn ich selbst vorher gründlich geschwitzt habe. Und ich will in diesem Sommer möglichst oft von den Jungs erzählen, denen ich vor einigen Jahren beim Fußball zugesehen habe. Sie waren so leidenschaftlich bei der Sache, dass man zweimal hinsehen musste, um zu kapieren, dass sie als Minenopfer alle mit einer Prothese über den staubigen Platz rannten.