Das Bild ist professionell arrangiert. Kein Funken lebendige Improvisation. Frankreichs Präsident und Deutschlands Kanzlerin auf gemeinsamer Friedensmission; an einem runden Prunktisch in austauschbaren Staatsgemächern, zuerst in Kiew, Ukraine, dann im Moskauer Kreml, dritter Mann am Tisch jeweils der dortige Präsident und Kriegsherr. Die beiden gewichtigsten EU-Kontinentalmächte versuchen einmütig, den auflodernden Kriegsbrand in Osteuropa einzudämmen, bevor die Folgen für das europäische Haus unabsehbar werden.
Nur Ihrer Majestät Regierung in London ist nicht auf dem Bildschirm. Ansonsten wären die wichtigsten Akteure der Menschen verschlingenden Konflikte im Europa meiner Lebenszeit wieder einmal beieinander.
Auch damals vor, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sind berühmte Fotos und Filmaufnahmen entstanden: Staatsmänner treffen Diktatoren bei der Münchener Konferenz; Chamberlain hält auf einem Londoner Flugplatz ein wertloses Friedenspapier mit der Unterschrift von Hitler in die Luft; Molotow in Berlin, ein halbes Jahr vor dem Überfall auf die Sowjetunion; die Sieger bei ihrer Konferenz in Potsdam.
Ob die Dreiertische von Kiew und Moskau einmal in ein europäisches Schicksalsarchiv eingestellt werden, kann noch niemand wissen. Dieser Rang setzt ja wohl den Erfolgsfall voraus.
Mich beschäftigt am Tag danach etwas viel Einfacheres. Nämlich die Vergewisserung, dass ein kurzes Menschenleben lang genug ist dafür, dass Erbfeindschaften, scheinbar unverrückbare Landmarken im Geschichtsbild von uns kleinen Leuten, obsolet werden. Sogar lang genug dafür, dass sie bei Kindern und Enkeln schon regelrecht in Vergessenheit, in Unwissenheit versinken können; während dieselbe Geschichte andererseits trotzdem manches „No go“ hinterlässt, die Bürger und Mächtige bis heute bindet.
Geboren bin ich während des sog. Sitzkrieges, Drôle de Guerre, an der damaligen deutsch-französischen Rheinfront Anfang 1940. Der Großdeutsche Rundfunk meldete an diesem Tag immerhin die Vernichtung eines französischen Lkws mit Besatzung, skurril! Den Erbfeind Frankreich musste der Reichslügenmeister Goebbels nicht erfinden. Braun nachlackieren genügte völlig. Das Erbstück aus Moltkes und Hindenburgs Generationen funktionierte noch einwandfrei. „Jeder Stoß ein Franzos´“, lernten vor 100 Jahren schon die I-Männchen. Aber auch „Jeder Schuss ein Russ´“ hat der Untermenschen-Propaganda des sog. Ostfeldzugs eine Generation später vorgearbeitet.
Meine unspektakuläre Familiengeschichte reicht völlig aus, um für den Aasgeruch all dieser Todfeindschaften banale Belege zu finden: Aber dann auch für die Jahre und Zeiten der Ernüchterung und des Umdenkens, für die empfindlichen Pflänzchen des Neuanfangs, für die langjährige Schule von Zuhören und Verstehen; irgendwann auch für die kaum wieder erkennbare neue Alltäglichkeit einer gedeihlichen Nachbarschaft, gewürzt mit einer Prise Ironie.
Nicht jede der spektakulären präsidialen Gesten auf dem Weg zur gedeihlichen deutsch-französischen Nachbarschaft hat mich bei ihrer medialen Inszenierung überzeugt. Interessenkonflikte, wie wir sie auch mit Nachbarn im Dorf kennen, sind geblieben. Aber vor der Klammer der komplizierten Formel des Zusammenlebens steht das Pluszeichen. Es bürgt für das Gesamtergebnis. Und das, obwohl in den Geschichtsbüchern der Kinder unverändert dieselben Wahrheiten stehen, in Frankreich, Russland/Ukraine, Großbritannien, Polen, Italien, Griechenland usw.
Ein Leben ist lang genug dafür, dass sich eine tatsächliche neue Hausordnung auf einen vergleichsweise kleinen Kontinent durchsetzen kann. Wir Alten können dafür als Zeitzeugen aussagen. Aber deshalb kann unsere Kanzlerin auch nur mit einem französischen Präsidenten auf Tour gehen, der wie sie keine Waffen für die militärische schwächere Partei im Gepäck hat – und auch nicht in der Hinterhand. Die Wunden, die dadurch aufgerissen würden, könnten für Europa tödlich sein. Deutsche Beihilfe zu Waffenlieferungen in den Ukrainisch-Russischen de facto-Krieg: das zwingt nicht nur den 22. Juni 1941 auf die Titelseiten russischer Zeitungen, sondern legt auch den Finger in alle historischen Wunden der ukrainisch-russischen Nachbarschaft.
Die Fotos von der Dreiertischen in Kiew und Moskau erwiesen sich dann umgehend als bittere politische Fata Morgana.