Das Feigenblatt erfreut sich sprichwörtlicher Bekanntheit. Aber längst nicht alle Leute wissen, wie das gute Stück in unsere Bildersprache hinein geraten ist: Feigenblätter sind der erste Ertrag menschlicher Baumpflege, der in der Bibel Erwähnung findet. Adam und Eva haben gegen den erklärten Willen des Schöpfers vom Baum der Erkenntnis gegessen. Weil sie nun ihre Nacktheit wahrnehmen und als beschämend empfinden, machen sie sich Schurze aus Feigenblättern. Die ersten Kleidungsstücke von Menschenhand, gepflückt von einem der ältesten Kulturbäume, nicht wirklich geeignet als Outdoor-Kleidung. Nur ein Notbehelf in ihrer Identitätskrise. Die erste Kleidung für den Existenzkampf draußen, nach dem Verlust der Wohngemeinschaft mit dem Schöpfer im Garten Eden, fertigt ihnen Gott selber an, aus langlebigem Fell, nicht ganz vegan.
Spürt man der biblischen Erzählung nach, dann erweist sich unser Schimpfwort vom „Feigenblatt“ als kräftige Verbiegung des ursprünglichen Bildes: in der biblischen Erzählung Symbol für die Identitätskrise des Menschen gegenüber seinem Nächsten und seinem Gott; umgangssprachlich die Bloßstellung des Törichten, der die Wahrheit mit ziemlich lächerlichen Mitteln zu kaschieren sucht.
Auch die Christenmenschen unserer Tage, die meisten jedenfalls, sind bei der Wahrnehmung der Schöpfung Urenkel des Theologen und Naturwissenschaftlers Charles Darwin. Der Prozess der Evolution des Lebendigen lässt nicht nur ungezählte Vernunfts- und Indizienbeweise für sich sprechen. Wer sich auf all diese Beweismittel für die unglaubliche Geschichte des Lebens einlässt, bekommt ganz nebenbei auch fortgesetzt seelische Vitaminstöße; vorausgesetzt man nimmt beides, biblische Sinndeutung und naturwissenschaftliche Analyse, als das, was sie jeweils sind.
Nur würden Christenmenschen es nach der Darwinschen Wende vielleicht passender finden, Adam und Eva hätten sich am Anfang der menschlichen Kulturgeschichte nicht an einem Kulturbaum bedient, den es nach trockener Züchterlogik ja noch gar nicht geben konnte – allenfalls als Wildform. Dass Hominiden sich das Laubwerk von Bäumen zunutze machen, das weiß ja nun jeder halbwegs aufmerksame Zuschauer von Natural History-Fernsehkanälen. Kein Orang-Utan in den letzten Naturwäldern auf Sumatra und Kalimantan/Borneo, die noch nicht Palmölplantagen gewichen sind, der sich nicht zum Feierabend sein Schlafnest aus Blattwerk zurecht biegt. Dass andere direkte Verwandte des Menschengeschlechts sich im Blattwerk der Wälder gut auskannten, steht fest. Aber die ersten Unsrigen, Adam und Eva, überspringen gleich Jahrhunderttausende und pflücken ihre Höschen von einen Kulturbaum, der aus menschlicher Züchterarbeit hervorgegangen ist? Wie soll das gehen?
Ganz einfach! Die altisraelitischen Verfasser der beiden Schöpfungsgeschichten gingen ganz selbstverständlich davon aus, dass der Segen der Kulturbäume nicht etwa das alleinige Ergebnis züchterischer Klugheit gewesen sein kann. Ölbäume, Feigen, Weinstöcke, vieles mehr, wurden als ein so überwältigendes Geschenk empfunden, dass sie Teil des ursprünglichen göttlichen Gärtnerarbeit sein mussten. Der Schöpfer der ganzen erfahrbaren Welt – am Werk in der Sieben-Tage-Geschichte – und erst recht der göttliche „Gärtner von Eden“ haben die Welt der nicht kultivierten „wilden“ Bäume geschaffen und zeitgleich die Fülle der Kulturbäume, die ihren Segen direkt über den Menschen ausgießen. Die kollektive Erfahrung, der Stolz der israelitischen Obstbauern und Winzer geht ein in das Bekenntnis zum Schöpfer, zu dem Gott, der es von Anfang an gut gemeint und gut gemacht hat. Die biblischen Geschichtszeugnisse Israels wiederum sind voll von Detailschilderungen, was die Leute taten und tun mussten, um ihre Fruchtbäume zu hegen und vor Schaden zu bewahren. Verwüstete Baumpflanzungen sind eines der Bilder, die zivilisatorische Katastrophen, wie Kriege, kennzeichnen.
Adam und Eva fangen nach Überzeugung der biblischen Autoren im Gottesgarten von Eden nicht bei Null an. Die Menschenfreundlichkeit der Schöpfung ist durch die Vielfalt der Nahrung und Freude schenkenden Fruchtbäume bereits unter Beweis gestellt. Dass es Israels Bauerngenerationen nicht an Klugheit und Selbstbewusstsein gefehlt hat, darf man unterstellen. Aber sie sahen sich nicht als Schöpfer, wie die Autosuggestion der Biotechnologie es uns heute mitunter vorspiegelt: Sie wollten bebauen und bewahren, was nach ihrer Überzeugung ein liebender Gott seinen Menschen geschenkt hat.
Aus ihrer Sicht spricht nichts dagegen, dass Adam und Eva in ihrer Identitätskrise nach Feigenblättern greifen. Ihr Schöpfer hat dem Obstbauern von Anfang an perfekt zugearbeitet.