für Götz Kratzenstein,
in memoriam Brigitte Kratzenstein
Zum 75. Geburtstag habe ich eine Schildkröte geschenkt bekommen. Nein, keine lebendige. Das wäre schon etwas leichtfertig und unbiologisch. Man denke an die verbleibende statistische Lebenserwartung eines männlichen Homo sapiens von 75 Jahren und an das, was Zoologen und Hobbytierhalter den Schildkröten nachsagen.
Nein, die meine kommt daher als Kopie eines feinen Scherenschnittes und ziert den Gruß eines noch deutlich älteren Kollegen. Die Künstlerin war seine Frau. Ohne die Einzelheiten zur Hand zu haben, ist mir gut erinnerlich, dass sie es fertig brachte, mit ehrenamtlichen künstlerische Initiativen einem ganzen Krankenhaus finanzielle und atmosphärische Freiräume zu schaffen.
So lasse ich also meine Geburtstagsschildkröte von links nach rechts an mir vorbei laufen. Offensichtlich ein adultes, sorry, ein erwachsenes Tier. Landschildkröte ihres Zeichens. Das muss gesagt werden. Denn die Reptiliengroßfamilie der Schildkröten hat in mehr als 200 Millionen Erdenjahren so gut wie keinen irdischen Lebensraum ausgelassen: Steppen, Wüsten, Wälder, Sümpfe, Flüsse, Seen und die Weltmeere. Nur in den Polarregionen kommen die wechselwarmen, also auf tägliche Sonnen- und Wärmebäder angewiesenen Tiere nicht zurecht.
Mehr als 200 Millionen Jahre, das ist aber auch eine überaus lange Experimentierphase! „Survival of the Fittest“ pflegte das der Theologe und Naturforscher Charles Darwin zu nennen. 200 Millionen Jahre, abgerundet zum einfacheren Vergleich, das ist etwa 40 mal die bisherige Verweildauer der Gattung Homo, einschließlich aller wieder vom Markt des Lebens genommener Versuchsmodelle. Ob meine Schildkröte deshalb den Kopf so hoch trägt, statt mit ihrem zahnlosen, mit Hornleisten ausgestatteten Maul zu grasen?
Eh ich es vergesse, bei dem Scherenschnitt-Modell scheint es sich um eine Griechische Landschildkröte, Testudo hermanni, gehandelt zu haben. Sie bevölkert seit Jahr und Tag unsere Zoogeschäfte und Eigenheimgrünflächen. Wer es gut trifft, wird artgerecht ernährt und sachkundig überwintert. Aber ganze Heerscharen gehen bei nachlässiger Pflege elend zugrunde. Mit Deformationen und Aufweichungen des Panzers nimmt das Trauerspiel meist seinen Anfang. Dauerdurchfall kommt dazu. „Rosemarie“ in unserer Nachbarschaft hat es da besser getroffen. Sie nennt ein imposantes Gartengrundstück ihr eigen, schon seit Jahrzehnten; und damit deutlich länger als ihre Freiland-Verwandten im Süden Europas sich des Lebens erfreuen.
Wenn wir allerdings eine deutsche National-Schildkröte küren wollten, dann könnte das nur die Europäische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis, sein. Naturfreunde in allen möglichen Regionen des Landes versuchen, den letzten Gruppen dieser schönen Tiere unter den Panzer zu greifen. Die Vernichtung ihrer Lebensräume in Gewässernähe, zusätzlich der Hunger allesfressender Zehntausender von Waschbären verdüstern die Hoffnungen.
Was bei uns der eingeschleppte Nordamerikaner namens Waschbär besorgt, dafür sorgen wir Menschen in anderen Weltgegenden selbst. Ein großer Teil der Landschildkröten-Arten taumelt in Asien dem Artentod entgegen, weil unsere Zeitgenossen sie in ihrer Küche nicht missen möchten. Nur eine Handvoll Artenschützer und Züchter hält dagegen.
Aber nicht nur die Küchenzettel der kleinen Leute, auch die Internationale der Gourmets wird den Schildkröten zum Verhängnis. Die Suppenschildkröte, Chelonia mydas, steht mit ihrem Populärnamen für die traurige Geschichte. Die Meeresbewohnerin wurde zunächst massenhaft als lebendiger Frischproviant in die Segelschiffe der frühen Kolonialzeit gestopft. Später erlangten Eier und Fleisch dann Kultstatus in der Haute Cuisine von Asien und Nordamerika bis London und München. Der Artentod klopfte deshalb schon vor 100 Jahren laut an die Tür. Aber erst seit 1988 ist ihnen internationaler Schutz zugestanden. Das heißt aber nicht, dass der Kitzel nunmehr illegaler Schildkrötensuppen damit aus der Welt geschafft wäre. Ich selber habe eingedoste Schildkrötensuppen noch deutlich nach 1988 in sog. Feinkostläden stehen sehen. Und in Florida und Hongkong ist das nur eine Frage des Preises und der Diskretion.
An der türkischen Mittelmeerküste oder auch an der Stränden von Sri Lanka und Mexiko leisten aber wir auf andere Weise Beihilfe zum Artentod. Die imposanten Meeresschildkröten werden zunehmend Opfer des Schnäppchen-Tourismus. Ihre Eierablage-Strände liegen gar zu oft in der Nähe der großen Bettenburgen. Die Schildkrötenmütter sind leider nicht zum Umzug zu bewegen. Ihr Instinkt leitet sie bei jeder Eiablage wieder an den Strand, auf den sie geprägt sind, und wenn sie darüber 75 Jahre alt werden. Der richtige Strand, das ist ja alles, was sie für ihre Nachkommen tun können. Weitergehende Brutpflege kennen sie nicht. Die auf dem Baum des Lebens auf dem Nachbarast beheimateten Krokodilmütter schieben wenigsten Wache beim Gelege. Schildkrötenmütter verschwinden nach der Eiablage im Meer und überlassen die Brut menschlicher Unvernunft und Gier.
Niemand zählt die Schildkröten-Kadaver, die als Kollateralschaden von Bergbau oder Ölgewinnung in den verseuchten Urwaldflüssen tropischer Weltgegenden treiben.
Selbst meine Zufallskenntnisse reichen aus, noch lange so fortzufahren. Kürzen wir die Sache ab. Die uralte Großfamilie der Schildkröten ist zwar Zeuge und lebendiger Bestandteil eines großen Abschnittes der Geschichte irdischen Lebens. Aber das scheint sie nicht davor zu bewahren, im 21. Jahrhundert kollektiv der Todesmühle des Anthropozän zum Opfer zu fallen. Anthropozän, ein Begriff, den wir uns aneignen müssen. Denn er beschreibt die Gegenwart, in der alles Leben und alle irdischen Lebensmittel dem zerstörenden und selbstzerstörenden Handeln des Menschen ausgeliefert sind. Die Krise irdischen Lebens kommt völlig ohne Supervulkan und Supermeteoriten aus. Der wild gewordene Mensch reicht.
Was die Schildkröten angeht, hat es ihr Schicksal durch den Tod von „Lonesome George“, einer männlichen Galapagos-Riesenschildkröte von der Insel Pinta, vor drei Jahren letztmals in die populären Medien geschafft. „Lonesome George“ war das letzte lebende Tier seiner Unterart. Als alles längst zu spät war, bemühten Zoologen sich jahrelang, irgend wo auf dem Galapagos-Archipel doch noch ein fortpflanzungsfähiges Weibchen zu finden. „Lonesome George“ aber starb im besten Alter von ungefähr 100 Jahren: ein Stück Biologiegeschichte, aufgekocht zum medialen Rührstück.
Während „Lonesome George“ gnadenlos vermenschlicht wurde, gingen Lebensraum-Zerstörung und Ausrottung via menschlichem Speisezettel für hunderte von Schildkrötenarten weiter – auch dort, wo die Schildkröten uns Menschen einst halfen, die Welt zu verstehen. In vielen Kulturen von Indien bis zu nordamerikanischen Indianervölkern war es ja die Aufgabe mythischer Schildkröten, das Erdenrund im Gleichgewicht zu halten – so wahr es eine Scheibe war.
In der Heiligen Schrift von Juden und Christen hat die Schildkröte keine derart wichtige Aufgabe. Sie kann froh sein, wenn sie von den biblischen Autorem überhaupt zur Kenntnis genommen worden ist. Das ist nicht sicher. In der Liste der für die Israeliten kultisch unreinen Tiere, 3. Mose 11, 29, kommt auf deutsch eine „Kröte“ vor. Spezialisten meinen, damit sei, gestützt auf die lateinische Bibel, die Vulgata, eigentlich eine Testudo, also eine Schildkröte, gemeint. Sei´s drum!
Zeitzeuge der gesamten biblischen Geschichte bis zu den Tagen Jesu ist sie allemal. Mir fallen eine ganze Reihe von Landschildkrötenarten ein, die in Palästina/Israel ihr Habitat hatten und haben.
Dass sie sich nicht lauter zu Wort gemeldet haben, ist eben Schildkrötenart. Schon mal ein Laut im wildesten Liebesspiel; aber sonst schweigt man sich durchs Leben und macht sich so seine Gedanken.
Für die meisten Schildkröten ist das Leben dafür ja auch lang genug – solange wir sie leben lassen.