Eifrige Legehennen gehören zur Osterkulisse wie der Osterhase. Zu Zeiten, als beide noch nicht aus Schokolade waren, traf sich der österliche Eierbedarf noch mit dem jahreszeitlichen Lege- und Bruttrieb der alten Haushuhnrassen. Meine Großmutter, Jahrgang 1884, erzählte gern und oft, wie man es in ihrem schlesischen großbürgerlichen Elternhaus darauf anlegte, punktgenau zu Ostern die ersten Küken des Jahres aus den Eiern zu bekommen. Die wurden dann in einer ausbruchsicheren Dekoration auf dem Frühstückstisch gestellt, – ohne Glucke, vermute ich. Aber sie bekam ihre Minis natürlich zurück.
Küken führende Glucken gehörten auch noch zwei Generationen später, nach 1945, zu den Alltagsbildern der bäuerlichen Landwirtschaft. Wohlgemerkt, nicht als Folklore für „Ferien auf dem Bauernhof“, sondern als eines von vielen Zahnrädchen betriebswirtschaftlicher bäuerlicher Routine. In heutigem Jargon: wie ihre Glucken drauf waren, darüber sprachen die Bauern ernsthaft am Sonntagmorgen nach der Messe im Wirtshaus. Wir Dorfbengel kannten jedenfalls das Thema.
In der Osterzeit 2015 braucht es jede Menge Werbemayonnaise, um zuzukleistern, unter welchen tierquälerischen Bedingungen unsere Turbo-Legehühner ihren Leibern die – ich schätze mal – eine Milliarde zusätzlicher Eier abpressen, die die Saison verlangt. Weil der Markt, also letzten Endes wir, das so wollen, sind die Eine-Saison-Legemaschinen längst züchterisch so manipuliert, dass sie mit den tüchtigen Glucken meiner Kindheit nur noch den zoologischen Gattungsnamen gemeinsam haben.
Selbst das außerplanmäßig gluckende Huhn, dem meine Frau einst ein Rudel Adoptivküken untergejubelt hatte, stürzte sich wie ein Adler auf unseren vertrauensseligen Hund, der einfach nur mal schnuppern wollte. Dabei war diese Adoptivmutter nicht mal ein Vorwerkhuhn oder ein Sulmtaler, nicht mal ein Italiener, also Angehörige einer genetisch intakten bäuerlichen Haushuhnrasse. Schwarz gefiedert und undefiniernarer Rasse lebte sie mit einem Dutzend weißer Schwestern zusammen, die wir aus einer Eierfabrik freigekauft hatten. Aber vor 35 Jahren waren offensichtlich noch durch Schlüsselreize reaktivierbare Brutpflegeinstinkte in manchen Durchschnittshennen übrig geblieben.
Mit den Adoptivküken hatte es eine besondere Bewandtnis. Wir wollten selbst Küken bis zur Legereife aufziehen. Also fuhr ich mit zwei meiner Jungs zu einem Geflügelzüchtermarkt in der Region und erstand zwölf Leghorn-Hühnerküken. Vielleicht, weil ich den Jungen den Spaß gönnen wollte, ging ich dann auf das Angebot des Züchters ein: ob ich kostenlos noch ein paar Hähnchenküken dazu haben wolle? Er langte mit beiden Händen in eine Pappkiste und setzte mir ohne abzuzählen einen Trupp kleine goldgelbe Hähnchen in meinen Karton. Später stellte es sich heraus: sie waren zu acht. Somit hatte die Adoptivmutter überaus reichlich zu tun – obwohl sie ja, wie alle Hühner, nicht zählen konnte.
Das große Geschlechter-Who-is-Who klärte dann die Zeit. Es dauerte nur wenige Wochen, da fingen etliche der nicht mehr goldgelben Küken an, Hahnenkämpfchen untereinander auszutragen. Bald war dann klar, wer niemals Eier legen würde und folglich nach einer kurzen Jugend zum Verzehr bestimmt war. Sollte uns da – zum Missfallen aller Vegetarierinnen und Veganer – schon ein Wässerchen im Munde zusammen gelaufen sein, wurde unser Appetit wirkungsvoll gezügelt: die kleinen Hähne bekamen wahrlich gutes Futter, Grünzeug inklusive und hatten reichlich Auslauf. Aber sie wollten und wollten keine leckere Muskulatur ansetzen. Sie gehörten nun mal zu keiner dieser Zweinutzungsrassen, die Eier und Fleisch liefern: beides nicht im horrenden Übermaß, aber beides zu Nutzen und Zufriedenheit des Halters.
Ich mach´s kurz. Die leichtfertig übernommenen Hähnchen rächten sich noch post mortem mit einem erheblichen Arbeitsaufwand für recht bescheidenen Zugewinn an Nährwert. Die Jung-Leghorns waren jedenfalls nicht das berühmte „Poule au pot“ (Huhn im Topf), das der französische König Heinrich IV zum Symbol für das Lebensglück der kleinen Leute erhoben hat.
An diese Lehre erinnere ich mich, wenn ich mir die heute übliche Beseitigung aller Hähnchenküken in der industriellen Eierproduktion vergegenwärtige. Für mich wäre das ein elender Spezialistenjob: Tag für Tag abertausende Küken in die Hand nehmen und mit Sehhilfe die kleinen Hähnchen selektieren. Welches Verb man in den Betrieben für die anschließende Tötung verwendet, ob grob oder verschleiernd, weiß ich nicht. Aber das Arrangement ist eine der Manifestationen für die seelenlose Brutalisierung unseres Umgang mit den Mitgeschöpfen. Wir tun es gemeinsam, industrielle Brüter, Sex-Tester, Eierproduzenten, Eierverkäufer und Eierkäufer.
Ich weiß, unser Versuch, spindeldürre Hähnchen einer Eierlegerasse aufzupäppeln, war töricht und zeigt keinen Ausweg. Und auch die Bioeier-Branche stochert bis heute im Nebel.
Darum setze ich in der Ostereiersaison 2015 auf eine Reihe von Meldungen, denen zufolge Naturschutzverbände und Biolandwirtschaft Zeit und Geld aufwenden, um das über viele Bauerngenerationen normale Zweinutzungshuhn aus dem noch vorhandenem Genpool der Haushuhnrassen wieder heraus zu züchten. Sulmtaler und Les Bleues de Bresse (die Blauen von Bresse) sind zwei der Rassen, mit denen gearbeitet wird.
Ob am Ende dieser Arbeit dann das Angebot eines 50-Cent-Bioeis vom Zweinutzungshuhn stehen wird, werden wir erfahren. Aber solange ich, anders als meine veganen Mitmenschen, das Kulturgut Haushuhn nicht missen möchte, werde ich diesen Preis wohl zahlen müssen. Zur Gegenfinanzierung biete ich gern den Preis eines Pauschalfluges in die Dominikanische Republik an, ernsthaft!