Den NachrichtensprecherInnen gehen die Begriffe längst fließend über die Lippen, wenn sie Nachrichten aus der muslimischen Welt mitzuteilen haben: Sunniten und Schiiten. Sie müssen die Namen der beiden größten muslimischen Konfessionen immer wieder ablesen, wenn es gilt, Konflikte in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten verständlich zu machen. So, wie jetzt wieder, in der Woche vor Ostern, nach christlichem Kalender. Anlass ist dieses mal der Bürgerkrieg im Jemen, samt seinen in- und ausländischen Parteien, die den beiden Konfessionen zugeordnet werden.
Ich darf meine Kenntnis islamischer Verhältnisse nicht überschätzen. Sie sind bescheiden genug, so gar mangelhaft für einen christlichen Theologen, wenn er sich einem interreligiösen Dialog stellen müsste. Aber mache ich mir nichts vor! Mein bescheidenes Basiswissen nimmt sich auf einmal beachtlich aus, wenn man es mit dem vergleicht, was der Durchschnittsdeutsche in Zeiten von PEGIDA so an Verstehenshilfen in Sachen Islam so mit sich herum trägt.
Ich fürchte, meine Landsleute neigen dazu, Sunniten und Schiiten für so etwas wie zwei gigantische Rockerclubs zu halten. Oder, milder gestimmt, für zwei leidenschaftliche Fanclubs, wie Bayern München und Borussia Dortmund sie in der Hinterhand haben. Ob PEGIDA-Spaziergänger oder nicht, wären sie vermutlich überfragt, ob die Muslime in Deutschland denn etwas mit diesen viel genannten Schiiten und Sunniten zu tun haben.
Ja, haben sie! Denn plus/minus 80% aller Muslime sind Sunniten, nach ihrem Verständnis so etwas wie die treuen Altgläubigen. Höchstens 20%, mit dem Schwerpunkt im Iran, Irak und Oman, sind Schiiten. Die Wurzeln ihrer Gemeinschaft und damit der Aufspaltung des Islam finden sich in einem bitteren und keineswegs lächerlichen Konflikt in den ersten zwei Generationen nach dem Propheten Mohammed. Allein schon, weil die Mehrheit unserer muslimischen Nachbarinnen und Nachbarn aus der Türkei mit ihrem sunnitischen Staatsislam stammt, sind die deutschen Sunniten eindeutig in der Mehrheit.
Wir verstehen: obwohl auch dieser Vergleich hinkt, liegt für uns doch der Vergleich mit den christlichen Konfessionen, – in Deutschland vereinfacht durch „evangelisch-katholisch“, – nahe. Das ist so, obwohl islamische Gemeinschaften nicht mit christlichen Kirchen gleich gesetzt werden können, allein schon, weil der Papst oder der EKD-Ratsvorsitzende keine hierarchischen islamischen Oberhäupter als Gegenüber haben, die sie eben mal anrufen können. Und natürlich gibt es sehr viel mehr als nur zwei muslimische Konfessionen. Wieviel Macht auch kleine muslimische Konfessionen vermitteln können, zeigen z.B. die syrischen Alawiten. Mit nur wenigen Prozent Bevölkerungsanteil waren sie bisher doch der Rückhalt des syrischen Dikatators Assad.
Deutsche Muslime, ob Sunniten oder z.B. schiitische Flüchtlinge aus dem Iran, werden sich uns religiös weniger interessierten Durchschnittsdeutschen gegenüber erst einmal als muslimische Gläubige vorstellen; nicht als Angehörige einer bestimmten Konfession. Selbstverständlich kennen sie die Unterschiede. Sie sind mit ihnen aufgewachsen, vor allem geprägt durch die jeweiligen Feste samt den dazu gehörenden dramatischen Geschichten. So werden die Unterschiede zum Erlebnis – so, wie bei uns Marienfesten ihre Wirkung entfalten, oder Wallfahren, früher der Reformationstag, Karfreitag usw. Muslimische Jugendliche in einer deutschen Stadt werden wissen, welche Moscheen wo sind, wer dorthin geht und warum sie wo anders hin gehen.
Trotzdem, für den Deutschen Michel ist das alles ein bisschen viel. Die meisten von uns leben, was die christliche Vergangenheit angeht, mit einem weitest gehenden Traditionsabbruch. Uns fehlen selbst elementare Kenntnisse der Religion, die bis vor 80, 100 Jahren in Elternhäusern gelebt, in Kirchen, Dörfern und Stadtteilen gefeiert worden ist. Dieser Verlust ist unumkehrbar. Christsein in Deutschland ist 2015 möglich, ohne Frage. Aber es ist heute eine persönliche Entscheidung gegen den Trend und die Mehrheit. Nach des Kaisers „Gott mit uns“ und vor allem der Führergefolgschaft der christlichen Mehrheit ist kein christliches Deutschland mehr zu erwarten, nicht mehr denkbar.
Aber weil das so ist, halten wir uns zwar nostalgisch sog. „christliche“ Parteien. Aber den nachchristlich Aufgewachsenen fehlen einfach Vergleichserfahrungen, um religiös geleitete Mitbürger anderer Religionen zu verstehen. Kein Vorwurf, eine Tatsache! Die Restkirchen werden von 80% der Landsleute längst in einen Topf geworfen, so oder so, je nach Stimmung. Darum werden sie von Muslimen, wenn sie deren Trennungen überhaupt zur Kenntnis nehmen, erst recht sagen, sie sollten sich nicht so haben und sich mal ein Vorbild an den Christen hierzulande nehmen.
Was man am Biertisch, beim Nachbarschaftstratsch längst vergessen hat, ist die bittere Erfahrung aus den Konfessionskonflikten aller Religionen: nicht der „Ungläubige“ ist mein schlimmster Feind. Es ist immer wieder der Ketzer, der Abtrünnige aus meiner eigenen Gemeinschaft. Gerade wenn ich überzeugt bin, dass meine Wahrheit so kostbar ist, dass sie mir Sinn schenkt, wird der Abweichende zum wütend machenden Ärgernis. Da muss sich dann nur noch hüben wie drüben ein Mächtiger dieser furchtbaren Explosivkräfte bedienen, und schon sind Vorwände für einen Dreißigjährigen Krieg geliefert. Wir evangelischen Flüchtlinge im stolz-katholischen Münsterland haben von dieser Saat der Feindschaft unter Brüdern und Schwestern nur noch ein gewaltloses Nachwehen gespürt. Aber schon das war übel genug – bei anderenorts umgekehrten Vorzeichen!
Die muslimischen Gesellschaften in unserer geopolitischen Reichweite leiden, ob uns das passt oder nicht, akut unter diesem Virus inner-religiöser Konflikte. Nicht zuletzt wohl, weil sie Generationen der politischen Entmündigung durch christlich geprägte Großmächte hinter sich haben. Der Islam, wie sie ihn jeweils kennen und auch lieben, gilt ihnen heute als der Weg zu Selbstachtung und Ermächtigung. Denen da oben und denen ganz unten gleichermaßen – auch wenn der grausame Saddam Hussein im Irak nicht der einzige war, der mit einem äußerst unfrommen Herzen seinen frommen Islam im wesentlichen für die Kameras seiner Propagandaabteilung inszeniert hat.
Hinter den großen Konfessionen des Islam stehen wirkungsmächtige Ideen, Geschichten, Monumente. Der König von Saudi-Arabien, obwohl Vorstandsvorsitzender einer recht jungen Dynastie, darf sich als Herrscher über Mekka mit der Kaaba auch als Primus inter Pares der Sunnitischen Welt fühlen. Den Machttitel des Kalifen, der mit der Sunniten-Geschichte aufs engste verbunden ist, hat sich jetzt allerdings der Anführer der Mordorganisation „Islamischer Staat“ aus dem Archiv des Islam geholt. Auch unter dem gleichen konfessionellen Dach können erbitterte Machtkämpfe ausgetragen werden. Wir Protestanten erinnern uns!
Allerdings war der Kalifen-Titel nach dem Zusammenbruch des Osmanisch-Türkischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs sehr verbeult. Die letzten Sultane, die zugleich den Kalifentitel beanspruchten, gelten kaum als attraktive Vorgänger. Mancher Sonderling, den es dazu trieb, hat sich seitdem schon „Kalif“ genannt. In Deutschland ist der 2004 ausgewiesene „Kalif von Köln“ noch in Erinnerung.
Die Schiiten, Mehrheit im Iran, im Irak, und in Regionen im Süden der Arabischen Halbinsel, richten ihre Visionen von religiös-politischer Macht nicht auf einen Kalifen, sondern auf den Iman. Auch in diesem arabischen Titel steckt der Anspruch auf die legitime Nachfolge des Propheten. Mehr geht nicht im Islam! Und ob Kalif oder Iman, gemeint ist immer das diametrale Gegenteil der Staatsidee unserer EU-Demokratien: religiöse und politische Macht und Entscheidungsbefugnis sind untrennbar und gehören in eine Hand! Der katholische Papst moderner Zeit ist ein machtloser Tropf, gemessen an den Ansprüchen, die in den beiden Titeln stecken. Vor tausend Jahren war das anders.
Fallen also jetzt in den Ostertagen im Jemen sunnitische Bomben auf schiitische Aufständische? Anders herum: versuchen schiitische Fanatiker eine sunnitische Gesellschaft zu vergewaltigen? Oder fürchtet das Saudi-Königshaus mit seiner recht kleinen und unzufriedenen Bevölkerung im Rücken, die Einkreisung durch die 80-Millionen-Power des Atomwaffen-verdächtigen Iran? Anders herum: tut der Iran, was jede Großmacht tut: ihren Machtbereich erweitern, abrunden, so lange es geht?
Dieselben Fragen lassen sich erst recht auf den Irak anwenden. Denn dort leben Schiiten (Mehrheit) und Sunniten (Minderheit) bis heute offiziell noch in einem Staatsverband. Und Blut ist seit den Tagen Saddam Husseins, des Sunniten, über George W. Bush´s Krieg, bis zum aktuellen IS-Kalifat unaufhörlich geflossen. Wie konfessionell-fromm waren und sind sie, die sich da regelmäßig den Tod bringen? Wieviel ist religiöses Bühnenbild für nackte Machtkämpfe? Wieviel konfessionelle Überzeugung treibt Attentäter, Händler, Mütter, Soldaten? Wieviel die wirklich Mächtigen?
Keine einzige Frage, die wir aus der Kirchengeschichte konfessionell begründeter Gewalttaten nicht kennen würden. Ich kann mich in die Geschichte des Nordirland-Konfliktes vertiefen oder einfach vor der eigenen Haustür stehen bleiben. Hier am Stadtrand von Magdeburg: was war das am 20. Mai 1631? Dieses unvergessliche Massaker bei der Eroberung von Magdeburg im Dreißigjährigen Krieg? Ein Blutbad katholischer Truppen an einer evangelischen Zivilbevölkerung? Oder ein Verbrechen unter vielen im hin und her wogenden Machtkampf verschiedener Fürstenallianzen? Oder was für ein Gespinst aus beidem?
Die Erinnerungswürdigen, die Sinn Stiftenden in diesen Verirrungen waren und sind stets dieselben. Ob im Nordirland-Konflikt oder nach dem Dreißigjährigen Krieg. Wir erinnern uns an die Menschen, die, geleitet von ihrem Glauben, den Frieden gesucht haben. Eigentlich ja nahe liegend, wenn man der Stimme Jesu von Nazareth zuhört – aber so lange ignoriert, wie fromme Kriegsherren überzeugt waren, sie würden Gott durch das vergossene Blut von Ketzern die Ehre geben.
Christliche Kirchen werden zu Recht in der Welt bleiben, solange sie nichts anderes mehr suchen, als Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, so die zeitgemäße Zusammenfassung des O-Tons Jesu. Auch den getrennten Gläubigen des Islam steht so ein Weg offen – so wahr sie sich mit Salam aleikum, dem Friedensgruß, grüßen. Auch die Konfessionen des Islam sind Heimat und Konfliktherd zugleich. Auch ihre Gläubigen müssen die Wahl treffen, wie wir.