Einmal habe ich das Grundrecht der Pressefreiheit als persönliche Bedrohung empfunden. Das ist lange her. Ende der 60er Jahre veröffentlichte die damals auflagenstärkste Alt-Nazizeitung – Neonazis sind erst eine spätere Errungenschaft – eine lange Liste mit Namen und vollständigen Adressen von Leuten, die sich für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Friedensgrenze zwischen Deutschen und Polen ausgesprochen hatten. Hintergrund war der innenpolitische Streit in der alten BRD im Anschluss sog. Ostdenkschrift der Ev. Kirche in Deutschland aus dem Jahr 1965.
Neben Leuten des öffentlichen Lebens, die Kummer gewöhnt waren, standen viele Unbekannte auf dieser Liste. So auch ich. Die braune Redaktion forderte ihre Leserschaft unverfroren auf, den „Verrätern an Deutschland“ per Post und Telefon die Hölle heiß zu machen. Dass die ewig Gestrigen auch in unserer roten Ruhrgebietsstadt eine beachtliche Leserschaft hatten, konnte ich aus einer ganzen Reihe von wohlwollenden Nachfragen schließen: „Wissen Sie schon, dass Sie bei denen auf der Liste stehen?.“
Für den Fall, dass es nicht bei straffreien Meinungsäußerungen geblieben wäre, ist mir damals unser Kleinkind und meine schwangere Frau in den Sinn gekommen. Das kann ich nicht leugnen. Klar, dass ich mich fragte: „Dürfen die das?“ Sie durften. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass die Zeitung wegen ihrer hetzerischen Titelseite damals belangt worden wäre. Pressefreiheit in Frage zu stellen, heißt, ein dickes Brett bohren.
In späteren Jahren gab es dann noch zwei Skandale, die Menschen meines Verantwortungsbereichs betrafen. Eine Sensationszeitung machte sich über sie her und gab sie wahrheitswidrig der Lächerlichkeit preis. So etwas hat nicht nur einmal, Verzweifelte in den Selbstmord getrieben.
Drei Erlebnisse, die mich an grenzenloser Pressefreiheit zweifeln ließen.
Dem stehen in einem unspektakulären kirchlichen Arbeitsleben gefühlt tausend Tage und Situationen gegenüber, wo ich das Wechselspiel von Nachrichten, Meinung und Widerspruch, das die Pressefreiheit mit sich bringt, einfach nur großartig und kostbar gefunden habe. Viele Menschen haben sich jahraus, jahrein die Freiheit genommen, mir und der Kirche, in deren Namen ich arbeitete, öffentlich harsche Kritik unter die Nase zu reiben.
Sie hatten Anlass dazu, weil zuvor Journalistinnen und Journalisten sich die Freiheit genommen hatten, unseren Anliegen in Zeitung oder Radio Raum zu geben, oder uns gleich selbst zu Wort kommen zu lassen. Dabei war sehr vieles, was wir vertraten und forderten, alles andere als Mehrheitsmeinung. Wer um 1975 die Freilassung von Nelson Mandela forderte, war fix ein Terroristen-Helfer. Später lagen Abschiebeknäste lange Jahre lang voll im Trend. Wir demonstrierten wieder und wieder dagegen. Keine Redaktion hätte regelmäßig davon berichten müssen. Die Jahre der erbitterten Kontroverse um atomare Nachrüstung und die sog. Friedensbewegung haben das Profil vieler Redaktionen geschärft oder auch zerkratzt.
Bis heute weiß ich nicht, ob wir den Maulkorb-freien Redaktionen, mit denen ich es über große Strecken meines Berufslebens zu tun hatte, am Ende mehr LeserInnen zugeführt oder abspenstig gemacht haben. Was ich aber weiß, ist, dass unter dem Dach desselben Medienkonzerns, desselben Senders verschiedene Redaktionen die Pflanze der Pressefreiheit sehr unterschiedlich gepflegt haben. Wohl der Bürgerschaft, die in ihrer Mitte eine Redaktion mit, sagen wir mal, dem Schwarzen Daumen hat.
Berufliche Grundsatzentscheidungen, nennen wir sie ruhig Gewissensentscheidungen, können für JournalistInnen auch bei uns ihren Preis haben – wie in allen Berufen, die sich lohnen. Ob die Pressefreiheit, ihre Inanspruchnahme, in 66 Jahren Bundesrepublik einmal auch ein Menschenleben gekostet hat, weiß ich nicht.
Aber ich erinnere mich gut, was ich in kirchlichen Gremien nicht nur einmal erfahren habe: für diese spezielle Information über schrecklichen Menschenrechtsverletzungen im Unrechtsstaat X habe die Journalistin N.N. ihr Leben riskiert und dabei verloren. Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, auch Regierungen, haben ähnliche Vermerke in ihren Akten.
Solche Frauen und Männer sollten auch den christlichen Gemeinden ein Dankgebet wert sein.
Der kommende Sonntag, UNO-Tag der Pressefreiheit, bietet sich dafür an.