Dass wir Deutschen zu einer bedrohten Art gehören, kann ich nun wirklich nicht bestätigen. Von wegen: immer weniger! Und das trotz all der türkischen Neubürger, die man noch nicht einmal an Hand der Vornamen nach Geschlechtern sortieren kann.
Der Augenschein lehrt mich anderes. Gestern habe ich in der Frühlingssonne mit dem Rad mal einen etwas weiteren Bogen durch die Ackerfluren unseres Großdorfes gemacht. Und was soll ich Ihnen sagen? Die nächsten beiden großen Flurtücke haben sich in Bauland verwandelt. Die ersten fünf Häuser stehen schon im Rohbau. Am Ende werden es vielleicht 20 oder 30 sein. Nichts für den Millionär! Aber auch keine Chance für den Kleinverdiener. Die Bauherren werden wohl durch die Bank einkommensteuerpflichtig sein und sich den Traum vom nicht zu mickerigen Eigenheim erfüllen. Ob dieses neue Baulos, wo aktuell die Baumaschinen ihr Stelldichein haben, in unserem Dorf das zehnte oder zwanzigste seiner Art ist, vermag ich nicht zu sagen. Nur so viel: unsere Einwohnerschaft ist in der letzten Generation nicht einfach gewachsen. Sie ist explodiert.
Das war möglich, weil wir nach 1989 in Katzensprung-Entfernung zur neuen Landeshauptstadt Magdeburg viele Hektar an Bauland anzubieten hatten. Bauland, das muss gesagt werden, ist Land, das durch politische Entscheidung dazu erklärt wird. Ob es sich dabei zuvor um Geröllhalden, Abbruchgrundstücke, ehemaliges Industriegelände oder eben um Deutschlands beste Ackerböden handelt, spielt dabei keine Rolle. Letzteres ist in der Magdeburger Börde der Fall. Aberhunderte Baugrundstücke sind in 25 Jahren allein in unserem Dorf aus Ackerböden mit den höchsten Punktzahlen für landwirtschaftliche Nutzbarkeit herausgeschnitten worden. Und ein Ende ist nicht absehbar. Viele Magdeburger Oberregierungsräte und Fachärztinnen suchen noch, was ich ihnen nicht missgönnen will: die Ruhe nach dem beruflichen Sturm in einem netten zu Hause unter sozial Gleichgesinnten.
Das Angebot in den Lebensmittelabteilungen unserer Supermärkte ist durch diesen landesweiten Ackerfraß zugunsten der Häuslebauer bisher nicht knapper geworden. Schließlich ernähren wir uns von den Weltmärkten, im wörtlichen Sinn und nicht – wie etwa 1900 Jahre lang – von der heimischen Scholle. Auf der wächst rund um Magdeburg sowieso keine Menschennahrung, sondern Biomasse für den Energiehunger. Gleich neben den neuen Eigenheim-Baustellen steht der Raps in voller Blüte.
Was also gibt es am Programm „Äcker zu Eigenheimen“ zu meckern? Eigentlich nichts, außer dass sich unser Verlangen nach immer mehr Quadratmetern exklusiver Privatsphäre im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts als total unzeitgemäß erweisen wird. Ein Jahrhundert, zumal schon um eineinhalb Jahrzehnte angeknabbst, ist eine verdammt kurze Zeitspanne. Wir Alten haben das zwangsläufig gelernt. Dieser Tage sehen sich viele von uns die eigenen alten Kinderfotos an: damals 1944/45, Kriegsende vor 70 Jahren. Verdammt lang her – und es war doch unser eigenes kurzes Leben.
So dürfen unsere Bauherren des Jahres 2015 ziemlich fest damit rechnen, dass sie noch Zeitzeugen eines leidenschaftlichen globalen Streites sein werden. Wozu sind die Ackerböden der Menschheit da? Wer darf über sie verfügen? Wofür müssen wir sie vorrangig nutzen, notgedrungen? Wir Deutschen werden dann nicht außen vor bleiben. Wie viel fruchtbares Ackerland dürfen wir in Gartenzwerg-Reservate verwandeln – und das bei tatsächlich rasch sinkender Bevölkerungszahl?
Man muss kein Agrarwissenschaftler sein, um vorher zu sehen, dass sich dieser Konflikt nicht auf jene Äquator-nahen Länder beschränken wird, in denen der restliche gute Boden heute oft den Landraub-Geiern zum Opfer fällt. Allein schon die rapiden Verluste an Bodenfruchtbarkeit durch Klimawandelfolgen werden die Blicke einer von Hunger bedrohten Menschheit auf die fruchtbaren und noch einigermaßen ertragssicheren Böden der gemäßigten Zonen lenken.
In dreißig Jahren, wenn wir vielleicht noch 70 Millionen Nasen zählen, wird wohl kein Gemeinderat in Deutschland mehr bestes Ackerland einfach so an private Bauherren verscherbeln können. Die Zeit wird eine andere sein. Hin und wieder wird es in den dann aktuellen Medien eine kopfschüttelnde Dokumentation geben, darüber, wie man noch Anfang des Jahrhunderts Tag für Tag so um die 70 Hektar Land, darunter ein satter Anteil Ackerboden, für die Bequemlichkeit von Autofahrern und die Ansprüche des gehobenen Wohnens auf den Kopp gehauen hat.
Ich weiß, meine neuen Mitbürger, die Bauherren neben dem Rapsfeld, haben heute andere Sorgen.Sie warten auf den Elektriker und müssen sich zwischen zwei Lösungen für die Heizung entscheiden. Ob sie wissen, dass es mit dem freien Blick aus dem Fenster bald ein Ende haben wird? Sie werden Nachbarn bekommen, noch und noch – bis der Stadtrand erreicht ist.