Von den glutheißen Tagen vor der Regenzeit habe ich bei Dienstreisen nach Indien ein paar Kostproben abbekommen. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Hilflosigkeit, die mich überfiel, als mich der indische Kollege, der mich spät abends in dem kleinen Landhotel absetzte, noch schnell aber dringend vor dem eisgekühlten Wasser warnte, dass in großen Glaskrügen für die Gäste bereit stand. Noch so gut wie jeder Ausländer hätte üblen Durchfall bekommen, wenn er der Verlockung erlegen wäre. Das Wasser sei leider nicht „safe“, nicht ohne weiteres genießbar. Und wir hätten morgen ein umfangreiches Programm. Morgen früh der Kaffee, der wäre okay. Und ansonsten könne ich mich an jedem Kiosk mit Wasser in Flaschen versorgen.
Da lag ich nun schweißüberströmt und durstig auf meinem Bett. Draußen plärrten die Lautsprecher aller möglichen Läden indische Popmusik in die Nacht. Über mir an der Decke drehten sich mit schlurfenden Geräuschen zwei Ventilatoren. Damals, Anfang der 80er Jahren, waren sie noch das Mittel der Wahl im Kampf gegen die Hitze. Das Zeitalter der Klimaanlagen ruhte noch im Schoß der Zeit. Nach einer halben Stunde suchte ich einen Ausschalter für die Miefquirle und fand ihn nicht. An Stelle des Durchfalls wähnte ich eine Erkältung im Anmarsch angesichts der krassen Temperaturunterschiede drinnen und draußen.
Ausschalten der Ventilatoren in meinen Quartieren, das war dann tatsächlich einer meiner ersten intimen Anpassungsversuche an die Gegebenheiten einer Indienreise außerhalb der Touristensaison.Bald hatte ich kapiert, dass 98% aller Inder ohne diese elektrische Kühlung auskommen mussten und auch auskamen. Von Kindesbeinen an hatten sie gelernt, wie man sich in diesen heißen Wochen verhält, auch wenn die Arbeit weitergeht. Kleidung, Trinkgewohnheiten, Tageseinteilung, traditionelle Bauweisen, ein ganzer Katalog bewährter Anpassungsleistungen. Und vor allem das Wissen, der Monsun wird kommen! Unsereins staunte noch über die ausgetrockneten Flussbetten, über die sich ein um das andere Mal große Brücken spannten, als handele es sich um gigantische Fehlinvestitionen. Die Einheimischen versicherten mir, dass man auf der Brücke im nächsten Monat um dieselbe Zeit wieder einen richtigen Fluss überqueren werde. Darauf hebe ich eine der kleinen Wasserflaschen, die ich mittlerweile im Rucksack hatte!
Bei meiner ersten Indienreise war mir noch nicht klar, dass einfaches Trinkwasser abzufüllen und auf den Markt zu werfen, im Begriff war, ein Milliarden-Business zu werden. Einfach nur Wasser, ohne Limo-Aroma, ohne Werbung mit besonderem Mineraliengehalt. Nicht nur ein Geschäft, auch ein Skandal, der die indische Gesellschaft aufgerüttelt hat. Coca Cola gehörte zu den Unternehmen, die sich mehr oder weniger zum Nulltarif das Recht einräumen ließen, Unmengen unersetzlichen Grundwassers in ländlichen Regionen abzupumpen und zu vermarkten. Ungezählte Kleinbauernfamilien blieben in der Folge auf ihren ausgedörrten Äckern sitzen. Das Lebensmittel Nummer Eins erwies sich – wieder einmal – als Mittel zur Profitmaximierung der Reichsten auf Kosten der Menschen mit den verletzlichsten Lebensgrundlagen. Die Kaufkraft einer größer werdenden Mittelschicht in der riesigen indischen Gesellschaft machte den schmutzigen Deal möglich. Auch indische Computer-Fachleute und Anwältinnen trinken gern „safe water“. Wer bei uns will da den Zeigefinger heben, solange wir unser Trinkwasser als Hörige der Werbung in Plastikflaschen aus dem Supermarkt in unsere Wohnungen schleppen? Und das, obwohl, fast überall das Wasser aus dem Wasserhahn gleichwertig – oder wie bei uns zu Hause – besser als die Flaschenware ist.
Womöglich erleben Indiens Menschen in diesen Tagen einen Wandel zum Schlechteren, der die Konflikte von gestern auf einmal klein erscheinen lässt. Aus unserer Sicht geht es um ein paar läppische Striche auf dem Thermometer. Vier Grad nach oben, na und? 24 Grad statt 20; ja meinetwegen 34 Grad statt 30. Da sucht man sein Heil eben im Freibad oder in der Eisdiele. Die schreckliche Hitzewelle in Indien mit gegenüber der Vergangenheit um ca. vier Grad höheren Spitzenwerten schafft es aber Tag für Tag in unsere Abendnachrichten. Denn oberhalb von 45 Grad Celsius stoßen menschliche Gesellschaften offenbar an natürliche Barrieren, die ihr Funktionieren zur Qual werden lassen. Die Überlastung der Stromnetze durch Abermillionen durchlaufender Klimaanlagen ist da noch ein geringeres Übel. Spannkraft und Leistungsfähigheit der kleinen Leute, die Indien auf den Äckern und durch ihre städtischen Dienstleistungen in Gang halten, nehmen schweren Schaden. Und wer lesen will, kann das Zeichen an der Wand deuten: wie vielerorts in Afrika, in Lateinamerika: die Folgen des hausgemachten Klimawandels zeigen sich – aus unserer Perspektive – wieder einmal zuerst fernab vom Schuss. Lass es zwei, drei Prozent unserer Landsleute sein, die schon mal die Sonne Indiens und seine Menschen gesehen haben, für uns andere bleibt der aktuelle Glutofen ein Land hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen. Ich vermute, dass auch in Indien längst ein interessengeleiteter Streit entbrannt ist, ob die Klimaextreme als Indizien für epochale Veränderungen der Lebensgrundlagen zu verstehen sind.
„Augen zu und durch“ wäre die törichtste aller Haltungen. Keine Frage, dass die Großmacht Indien noch vieles tun und unterlassen kann, um einen entsetzlichen Klimawandel einzudämmen. Aber ohne die reichen, klimaschädlichsten Gesellschaften wie die unsere wird es nicht gehen. Wer als Erster Schindluder treibt, verdurstet als Zweiter.