Beamte sind auch nur Menschen: im Zweifelsfall die sichere Seite wählen. Den Buchstaben des Gesetzes so hinbiegen, dass mir jeder denkbare Ärger erspart bleibt. Wer kennt das nicht, auch ohne im Dienst unserer Behörden zu stehen!
Eine kräftige Prise dieser Haltung könnte im Spiel gewesen sein, als unser Landkreis sich die historische Birnenallee in der Ortschaft Rottmersleben unter die Lupe genommen hat. Verkehrsrechtlich eine Kreisstraße, im wirklichen Leben eine gepflasterte, ziemlich rumpelige, sehr schmale und deshalb kaum noch befahrene romantische landwirtschaftliche Nebenstraße. Eigentlich dient sie nur noch dazu, einem ziemlich einmaligen Natur- und Kulturdenkmal den Rahmen zu bieten. Wo sonst in ganz Mitteleuropa, sagen Fachleute, gibt es das ein zweites Mal: eine ganze Allee, nur von ausgewachsenen Birnbäumen vieler verschiedener Sorten gesäumt. Vor drei Generationen gepflanzt in der Absicht, sie wirtschaftlich zu nutzen und auch zu pflegen. Die DDR-Planwirtschaft hat die Birnenallee dann vom Nazistaat geerbt, genutzt und notwendigerweise auch gärtnerisch in Schuss gehalten. Das verlangen Obstbäume nun einmal zwingend. Im neuen Deutschland nach 1990 ist die Birnenallee von Rottmersleben ohne Nutzungskonzept und wegen knapper Kassen dann auch ohne regelmäßige Obstbaumpflege geblieben. Die logische Folge kennt jeder Obstbauer: im Laufe der Jahre sammelt sich in den Kronen jede Menge Totholz.
Irgendwann stellt dann zwangsläufig die rechtliche Frage der Verkehrswege-Sicherheit. So etwas kann den Zuständigen beim Landkreis nicht egal sein. Sie handeln. Der Ortsbürgermeister erfährt eher beiläufig, dass ein gutes Drittel der Birnbäume, 63 um genau zu sein, über Nacht Markierungen tragen, die den öffentlichen Baumfällern den Weg weisen. Die örtliche Baumschutzinitiative in der weit gestreuten Landgemeinde mit vielen Ortschaften war ahnungslos, leider. Wären da nicht ein Ortsbürgermeister und ein paar Gefährten gewesen!
Die Latte der Eigenmächtigkeiten der besorgten Behörde ist gruselig lang. Angefangen bei der seit Jahr und Tag unterlassenen Birnbaumpflege. Ist es Unkenntnis oder eigenwillige Interpretation der Rechtslage, dass die gesetzlichen Bestimmungen über den besonderen Schutz von Alleen bei der geplanten Attacke auf die 63 Starkbäume offensichtlich links liegen gelassen worden sind? Bei der Behörde muss man auch gewusst haben, dass es gesetzliche Bestimmungen über den Biotopschutz für bedrohte Tierarten gibt. Nicht gerade überflüssig in unserer Kultursteppe von Mais, Raps und Zuckerrüben. Sie trägt ihr gerütteltes Maß zu dem rasanten Artenschwund bei, den das Bundesamt für Naturschutz erst vor wenigen Tagen gleichsam amtlich gemacht hat. Da sind die Höhlen und Astgabeln von 160 Birnbäumen keine Kleinigkeit.
Rührend und biologisch zutreffend zugleich die gutachterliche Aussage eines Säugetierbiologen, Fledermäuse habe er in den Rottmersleben Birnbäumen leider nicht angetroffen. Die seien noch in der Winterruhe gewesen. Mit ihnen sei aber im Sommer fest zu rechnen. Ja, so ist das nun mal. Wir Menschen müssen akzeptieren, dass Fledermäusen sich ein frostsicheres Winterquartier und zusätzlich eine Sommerwohnung für die Insektenjagd leisten. Auch die Brutvögel seien noch nicht an Ort und Stelle gewesen, fügt er hinzu. Ich hoffe doch, dass unseren Leuten beim Landkreis das elementare Wissen über den Jahreskreis der Zugvögel nicht fehlt.
Wenn auch mancher Alleebewohner zur Expertenvisite nicht an Ort und Stelle war: andere werfen dafür ihr wenigstens juristisch beachtliches Gewicht in die Waagschale: Cetonia aurata und Protaetia lugubris waren zu Hause, Repräsentanten zweier Rosenkäferarten, beide gemäß Bundesnaturschutzgesetz besonders geschützt; letzterer, der Marmorierte Rosenkäfer, leider auch auf der „Roten Liste Sachsen-Anhalt“ geführt. Dort findet sich auch Agrilus sinuatus, der Birnbaum-Prachtkäfer. Der trägt in Sachsen-Anhalt das traurige Etikett „Vom Aussterben bedroht.“ Mich bewegt das. Einerseits zeugt der volkstümliche Name von Beobachtungsgabe und Schönheitssinn unserer Obstbäume pflegenden Vorfahren. Andererseits ist der metallisch-grüne Kleine offensichtlich wählerisch, was seinen Lebensraum angeht. Seine Larven gedeihen in Borke und Rinde der Birnbäume.
Die Leute in Rottmersleben und ihre Verbündeten haben der Birnenallee und ihrer tierischen Bevölkerung bis jetzt nicht mehr als eine Galgenfrist verschafft. Aber daraus kann mehr werden. Ein vernünftiger Kompromiss mit Zukunft. Dann, wenn wir Bürgerinnen und Bürger unser Natur- und Kulturerbe energisch verteidigen; wenn die Mitarbeitenden unserer Behörden die bequemen Wege verlassen und die Gesetze ihrem tatsächlichen Sinn gemäß anwenden, auch wenn es Mühe und Kopfbrechen bereitet. Wenn wir uns ganz ohne Kitsch und allzu billige Romantik klar machen, was eine Fledermaus im Sommerquartier, ein Käfer auf seinem Baum und erst recht eine einmalige Birnenallee für Schätze sind. Wegwerfen verboten! Wer es etwas dramatischer liebt, verschaffe sich sich Franz Hohlers unvergesslichen Kabarett-Song über den Weltuntergang. Da fing auch alles damit an, dass man einem Käfer seine Lebensgrundlage nahm.