Das war kirchliche Lobbyarbeit vom Feinsten. Zunächst einmal, weil es nicht um institutionelle Eigeninteressen einer Kirche in unserer Gesellschaft ging. Es ging, wie es das Privileg der Gemeinde Jesu sein sollte, um Menschen, in denen er selbst uns mit hoher Wahrscheinlichkeit begegnet – ganz im Sinn seiner Orientierungshilfe: „Was ihr einem dieser Schwächsten unter meinen Schwestern und Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Advocacy nennen wir das im ökumenischen Englisch, anwaltliches, aktives und unmissverständliches Eintreten, für die, die unter die Räuber gefallen sind.
Konkret ging es am Vorabend des Weltflüchtlingstages 2015 allerdings um Menschen, für die jede Parteinahme zu spät kommt. Etwa 23.000 Männer, Frauen und Kinder, hochgerechnet, die in diesem 21. Jahrhundert im Mittelmeer jämmerlich ertrunken sind bei dem Versuch, in Europa etwas Besseres als den Tod zu finden. An sie haben 23.000 Glockenschläge erinnert, arbeitsteilig ausgeführt von zusammen hundert Kirchen des katholischen Erzbistums Köln; angeführt vom dicken Pitter, der prominenten Superglocke im Kölner Dom. Ihres Zeichens die schwerste und größte frei schwingende Kirchenglocke des Landes.
Dazu stand für die Medien dann der Kardinal bereit mit einem Kommentar, der in Sachen humaner Flüchtlingspolitik klipp und klar das zusammenfasste, was in Kirchen und Nicht-Regierungsorganisationen weitgehend Konsens ist. Aber selbst der Erzbischof von Köln hätte es mit diesen wenig populären Forderungen kaum 24 Stunden lang an die Spitze der Nachrichten geschafft, wäre da nicht die Idee mit den 23.000 Glockenschlägen gewesen.
Kirchenglocken läuten seit Menschengedenken für die Toten. Bei uns im Dorf freilich nur für die wenigen, die zu Lebzeiten auch Kirchenmitglieder waren. Ob die Familien der anderen nach drei bis vier Generationen welkenden Volkskirchentums in Nazistaat und DDR noch etwas vermissen, weiß ich nicht recht.
Im Rheinland hat man beim Totengeläut nicht nach Kirchenzugehörigkeit gefragt. Für die christliche Eriträerin ja, für den muslimischen Syrer nein? Liebloser ginge es kaum. Außerdem gewöhnen wir uns ja seit Jahr und Tag an einen neuen Gebrauch des christlichen Kernwortes Ökumene, der alle Kinder Gottes einschließt, egal welche Glaubenswege sie gegangen sind.
Das haben, vermute ich, auch manche der Medienleute gespürt, als sie auf die ja eigentlich recht abstrakte Idee der auf hundert Standorte aufgeteilten 23.000 Glockenschläge angesprungen sind. Der Anteil wirklich in unseren Kirchen beheimateter Menschen wird unter ihnen wenigstens nicht höher gewesen sein, als im Durchschnitt der Bevölkerung. Aber sie hatten spontan ein Gehör für den Zusammenklang der Totenglocken in Stadt und Land. Ihr Schläge zur Erinnerung an die Toten waren zugleich ein Weckruf für streitbare Solidarität mit den Lebenden, die nicht das gleiche Schicksal erleiden dürfen.
Mich versöhnt das mit manchem Geläut zum Ruhm von Kaiser und Führer, zu dem sich unsere Kirchen im letzten Jahrhundert haben zwingen und missbrauchen lassen.