- Sonntag nach Trinitatis, 19. Juni 2005
Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
Genesis 50, 15-21
Josef. Seinesgleichen gibt es in den Geschichten des Alten Testaments wohl nur noch einmal in Gestalt des David. Mose könnte der Dritte im Bunde sein, wenn er auf uns nicht vor allem wie der Stellvertreter Gottes in Israel wirkte. David und Josef, das sind Söhne israelitischer Mütter, deren Lebensläufe abenteuerlich und gefahrvoll verlaufen, die sich als Werkzeuge des Gottes Israels erweisen und deren Namen in den Familien des Gottesvolkes und der christlichen Kirche weiterleben. Niemand weiß, wie viele Jungen sich zu allen Zeiten bei ihrem eigenen Erwachsenwerden auch an diese starken Typen gehalten haben.
Wenn David, wie ich vermute, das Beliebtheitsduell gegen Josef für sich entscheiden würde, dann liegt das sicher an den stärkeren seelischen Kontrasten seines Lebenslaufes. Erfolge und Gefahren, Ehrgeiz und Gottvertrauen, Schuld und Buße treten dramatischer zutage als in den Erzählungen von Jakobs Lieblingssohn Josef. Bis zu dieser Schlussgeschichte der Josefserzählung mit ihrer stillen, aber heftigen Spannung ist das Leben des Helden auf Ganze gesehen erstaunlich geradlinig verlaufen, sicherlich zur Freude israelitischer Religionslehrer. Die meisten Männerbiografien haben mehr „Macken“. Josef ist als Junge und Jugendlicher verwöhnt und ziemlich auf dem Ego-Trip, aber so etwas geht bis zu einem gewissen Alter eher auf das Konto der Väter. Vater Jakob hat da wohl ziemlich danebengegriffen mit seiner offensichtlichen Bevorzugung dieses einen Sohnes. Dann die böse Rache der Brüder, die sich gedemütigt fühlen! Aber der Sklave Josef ist längst, ohne es zu wissen, das Werkzeug seines Gottes. Darum schüttelt er alle künftigen Gefahren ab wie ein Pudel die Regentropfen. Die Frau des Potifar rächt sich für den misslungenen Verführungsversuch. Aber das Gefängnis ist für Josef eigentlich gar kein Gefängnis, sondern die Startrampe für seinen raketengleichen Aufstieg in die höchsten Staatsämter Ägyptens – vom Sklaven zum Vizekönig, zum Mann, der die Fäden zieht, der dem Pharao mit Erfolg klar macht, was zu geschehen hat. Nebenbei stellt Josef noch die ägyptische Gesellschaftsordnung auf den Kopf. Er garantiert mit seinen Vorratshäusern die Ernährungssicherheit in Zeiten des Hungers.
Und doch, diese Supermann-Karriere ist nichts als Mittel zum Zweck. Gott, davon ist Israel überzeugt, wollte Josef an diesem Platz haben, um die Sippe des Jakob vor dem Hungertod zu retten. Millionen von Kindergottesdienstkindern haben die Dramatik der Begegnungen zwischen Josef und seinen Brüdern in sich aufgenommen. Sie sind auf der Suche nach Brot zum Überleben, er bleibt unerkannt unter Schminke und Amtstracht des Pharaonenhofes. Verwicklungen, versteckte Prüfungen, Bewährungen, heftige Gefühle – bis zu dem Augenblick, in dem Josef sich zu erkennen gibt und seiner Sippe privilegiertes Asyl in Ägypten verschafft. Die schlimme Wunde in der Seele des alten Jakob ist geheilt.
Das ist die lange Vorgeschichte dieser letzten Begegnung zwischen Josef und seinen Brüdern, von der das 1. Buch Mose erzählt. Der entscheidende Unterschied gegenüber der Vorgeschichte: Jakob der Patriarch, der Herr seiner Familie ist nun tot. Er hatte sogar Autorität über seinen so hoch aufgestiegenen Sohn Josef. Wer will den mächtigen Josef jetzt noch an seiner Rache hindern? Rache will kalt genossen werden. Josef wäre nicht der erste, der lange Jahre auf seine Stunde gewartet hätte. Nie darüber reden, immer daran denken! Gibt es nicht sogar ein Recht auf Rache? Was ist mit den Frauen, die in Gerichtssälen auf die Mörder ihrer Kinder losgegangen sind? Oder mit den jüdischen Gruppen, die nach dem Naziterror auf eigene Faust eine Reihe von Tätern gejagt und getötet haben? Sie finden bei uns wahrscheinlich mehr Verständnis als die Verantwortlichen für sog. „Ehrenmorde“ in Zuwandererfamilien, von denen die Medien hin und wieder berichten. Obwohl, aus der Sicht der Täter geht es auch hier um den Erhalt von Familien – wie bei den Josefsbrüdern. Die Brüder versuchen ihre Haut zu retten – und die ihrer Familien – mit einem Notbehelf. Sie richten ihrem Bruder einen angeblichen letzten Willen des Vaters aus. Das kann er so gesagt haben oder auch nicht. „Vergib doch deinen Brüdern ihre Schuld!“ Selbst wenn Jakob das wirklich gesagt hat, Tote verlieren ihre Macht. Auch die zusätzliche Unterwerfungsgeste „Siehe, wir sind deine Sklaven“ bringt keine Sicherheitsgarantie. Wie viel Mächtige haben ihre Sklaven im Zorn umgebracht, statt sie für sich schuften zu lassen!
Das ist unter uns nicht anders. Gott verbietet, uns der Rache hinzugeben. Aber welche Kraft hat dies Gebot oder irgendein anderes, wenn Gott für uns längst gestorben ist? Es mag bitter sein, den Glauben, das Vertrauen auf den Gott an meiner Seite zu verlieren. Aber wenn es so ist: das Leben geht weiter – und es gelten andere Regeln. Es ist müßig, einen Menschen, für den Gott gestorben ist, an Gottes Lebensregeln zu erinnern – oder ihm gar mit Gott zu drohen. Es hätte bei Josef nicht geklappt. Und es kann bei uns nicht klappen, wenn Gott für uns in irgendeiner Vergangenheit zurückgeblieben ist.
So verdanken Josefs Brüder ihr Heil nicht dem Hinweis auf Jakobs angeblich letzten Willen. Sie leben nur deshalb weiter als die Gründergeneration Israels, weil Josef beschenkt ist mit dem Vertrauen auf seinen Gott. Gott selbst und niemand sonst hat ihn aus dem Zwang zur Rache befreit. Dieser gefährlich mächtige Mensch kennt sich selbst, er kennt die Menschen, er kennt seine Brüder: „Ihr gedachtet es böse zu machen!“ Es ist nicht Naivität, die die Rachegefühle des Josef überwindet und auflöst. Es ist ein Frieden, der höher ist als seine Vernunft und vor allem als seine Gefühle. Es ist der Friede des Gottes, der die schlimmsten Wunden menschlicher Seelen heilen kann. „Gott aber gedachte es gut zu machen.“ Gott selbst bewahrt Josef vor Blut an seinen Händen. Und der vergebende Josef vergibt nicht aus der eigenen Kraft seines Herzens. Er gibt eigentlich die Vergebung Gottes weiter, die für ihn so real ist wie der Sonnenaufgang an diesem Morgen.
Nicht überhören dürfen wir, wie Josef die Vergebung Gottes erklärt: Gott gedenkt es gut zu machen – nicht nur, damit eine Handvoll Frevler ungeschoren davonkommen. Sondern damit ein großes Volk am Leben erhalten wird. Ein Volk, das es noch gar nicht gibt. Die künftigen Generationen Israels. Das Volk, mit dem Gott seinen Bund erst noch schließen will. Das Zerstörungspotential der Rache reicht weiter und tiefer als bis zu denen, die sie direkt treffen soll. Das gilt mit den Worten des Josef für die Geschichtssicht Israels. Aber das ist genauso die Lebenserfahrung kleiner Leute wie du und ich. Nichts davon muss in die Zeitung kommen, aber wir wissen genau, wie die kleinen Rachedramen unseres Lebenskreises sich schnell unserer Kontrolle entziehen können – wie der Geist, der nicht mehr in die Flasche zurückgeht. Ein bisschen Rache scheint es nicht zu geben.
Gott selbst, so scheint es, wenn wir die Bibel als Ganzes nehmen, will sich davor schützen, missverstanden zu werden, was denn nun sein letzter, sein letztgültiger Wille ist. Ist es „Auge um Auge, Zahn um Zahn“? Oder auch „Ich will die Schuld der Väter vergelten bis in die dritte Generation“? Das sind ja Worte Gottes. Und es gibt Situationen im Leben der Menschen wie der Völker, in denen sie sich zu bestätigen scheinen, dass es uns kalt den Rücken hinunterläuft.
Um nicht missverstanden zu werden über seinen letztgültigen Willen, hat Gott uns Jesus gegeben. In allen Zweifeln, für alle Zweifler bringt er die Wende zum Leben: „Ihr habt gehört, was zu den Vorfahren gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.“ Gott möchte, dass wir ihm dies letzte Wort abnehmen. Als Befreiung aus den Fesseln unserer Verletzungen und Vergeltungswünsche. Damit wir befreit leben können. Und damit die anderen, mit denen wir leben, nicht bösen Schaden nehmen. Wie gesagt: zu erhalten ein großes Volk.