11. Sonntag nach Trinitatis, 3. August 2008
Und der HERR sandte Nathan zu David. Als der zu ihm kam, sprach er zu ihm: Es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines Schäflein, das er gekauft hatte. Und er nährte es, dass es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß und er hieltst wie eine Tochter. Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er’s nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war, sondern er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war. Da geriet David in großen Zorn über den Mann und sprach zu Nathan: So wahr der HERR lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat! Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan und sein eigenes geschont hat. Da sprach Nathan zu David: Du bist der Mann! So spricht der HERR, der Gott Israels: Ich habe dich zum König gesalbt über Israel und habe dich errettet aus der Hand Sauls und habe dir deines Herrn Haus gegeben, dazu seine Frauen, und habe dir das Haus Israel und Juda gegeben; und ist das zu wenig, will ich noch dies und das dazutun. Warum hast du denn das Wort des HERRN verachtet, dass du getan hast, was ihm missfiel? Uria, den Hetiter, hast du erschlagen mit dem Schwert, seine Frau hast du dir zur Frau genommen, ihn aber hast du umgebracht durchs Schwert der Ammoniter. Nun, so soll von deinem Hause das Schwert nimmermehr lassen, weil du mich verachtet und die Frau Urias, des Hetiters, genommen hast, dass sie deine Frau sei.
Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den HERRN. Nathan sprach zu David: So hat auch der HERR deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben. Aber weil du die Feinde des HERRN durch diese Sache zum Lästern gebracht hast, wird der Sohn, der dir geboren ist, des Todes sterben. Und Nathan ging heim.
(2. Samuel 12, 1-10, 13-15a)
Einer der ganz großen Prophetenauftritte in der Bibel: Nathan vor David. In der Sprache des Boxsportes müsste man urteilen: Sieg durch technischen K.O! Nathan darf außerdem erleben, was den gefährlich lebenden Propheten nur selten beschieden ist: der im Namen Gottes zur Rede gestellte mächtige Mann sieht sein Unrecht ein und bittet um Vergebung. Der ewige Nationalheld Israels und geistliche Stammvater Jesu ein reuiger Sünder! Bibelleser wissen: das Richteramt ist eine der Wurzeln für das junge Königtum in Israel. Dabei haben Richter kompliziertere Fälle zu lösen als diesen. Das hier ist einfach Willkür von der übelsten Sorte. Und David, der richtende König, hält sich noch nicht einmal mit seinen Gefühlen zurück – etwas, das wir eigentlich von einem Richter verlangen. Dabei hätte er vielleicht misstrauisch werden können. Das klingt ja wirklich wie in Grimms Märchen. Der arme Mann mit dem einen über alles geliebten Schäfchen, einem Kuscheltier auf seinem Schoß; es trinkt aus seinem Becher, verzärtelt wie ein Töchterchen. Welcher Kleinbauer in Israel wird sich so einen Gefühlsaufwand leisten? Aber David hat nur Ohren für die Anklage: der reiche Nachbar greift sich das eine, einzige Schäfchen, als er auf die Schnelle einen Gast bewirten muss. Todesstrafe und hoher Schadensersatz. David sprudelt sein Urteil nur so heraus, ohne Bedenkzeit. Natürlich, die Todesstrafe befremdet uns. Sie ist nur zu verstehen in einem Gottesstaat, wie es das alte Israel eben war. Das Schlimmste, was einer da tun konnte, war es, den Bund der Zehn Gebote zu brechen. Und das tat man, wenn man dem Mit-Israeliten die Lebensgrundlage raubte. (Im Alltag dürften aber wohl die Schadensersatz-Regelungen die wichtigere Rolle gespielt haben.)
Ich werde nie vergessen, wie ich vor knapp 50 Jahren im Hebräisch-Sprachkurs die Personal-Fürwörter lernen musste. Da zitierte der Dozent als Beispiel für die 2. Person Singular die Reaktion des Nathan auf den Urteilsspruch des David. Sie kommt daher wie ein Pfeil: „Hahu ha isch.“ Du bist der Mann! Der Mann, der seinem Nachbarn aus Eigennutz skrupellos das Liebste geraubt hat, nicht etwa ein verhätscheltes Schäfchen, sondern die junge Ehefrau. Bathseba heißt sie, ihr Mann Uria ist ein Offizier in der Söldnertruppe des David. David beobachtet sie beim Baden und will sie haben – als neue Lieblingsfrau in seinem Harem. Das darf auch ein König nicht, solange die Frau verheiratet ist. Also geht der Krieger Uria auf ein Himmelfahrtskommando und Bathseba an ihren neuen Besitzer.
Dass im Spiel und in der Liebe alle Tricks erlaubt sind, stimmt eben nicht. Frauen dürften sich als Freiwild der Könige, Präsidenten oder Milliardäre niemals wohl gefühlt haben, allen Macho-Fantasien zum Trotz. Und auch für Männer, die um dieselbe Frau werben, gibt es Grenzen. Brutale Machtausnutzung geschweige denn heimtückischer Mord darf sich kein noch so heißblütiger Liebhaber leisten. Dabei ist David bisher im Leben bestimmt nicht zu kurz gekommen. Nathan hält ihm die Liste seiner Supererfolge vor: angefangen als Hirte, heute zwei Königskronen, die von Juda und die von Israel, Thron und Harem seines Vorgängers – vor allem aber das öffentliche Ja Gottes zu seinem Königtum samt einem Treueversprechen für die Zukunft. David, was willst du eigentlich mehr? Wie kannst du da einem kleinen Untergebenen in einer Augenblickslaune das Lebensglück rauben? Wobei, für uns vielleicht befremdlich, die Treulosigkeit gegenüber Gott schwerer wiegt als das Verbrechen an Uria und die Zwangsheirat mit der Witwe Bathseba. Wobei, eine Warnung an die Ausreden aller sog. Schreibtischtäter, der Prophet das Tatgeschehen des Uria-Mordes zurechtrückt. Natürlich hat David nicht selbst zur Waffe gegriffen, aber Nathan spricht ihn ohne Umweg als Täter an: „Du hast ihn erschlagen.“ Die angekündigte Strafe entspricht der Tat, auf erschütternde Art und Weise, wenn man die weitere Geschichte des Königshauses bedenkt: „So soll das Schwert von deinem Haus nimmermehr lassen.“ Man kann es für die in Königshäusern vergangener Zeitalter nicht unüblichen Prinzen- und Königsmorde halten. Nathan, der Repräsentant des Gottesrechtes sieht indes die Folgen der Untreue gegenüber dem heraufziehen, der auch Herr über den König bleibt.
Der Moment, der jetzt folgt, entscheidet über den weiteren Lebens- und Herrscherweg des David. Es ist sein bitterer Augenblick der Wahrheit. Aber er stellt sich ihm ohne Diskussion. „Ich habe gesündigt gegen den Herrn.“ Ende der Aussage. Mehr ist nicht überliefert. Mehr ist auch nicht zu sagen. Mehr ist nicht nötig. Ein schuldig gewordener Mensch ist mit sechs Worten vom Thron seiner Selbstsicherheit herabgestiegen. Damit macht David Gott den Weg der Vergebung frei. Und Nathan handelt im gleichen Auftrag, wie ihn auch der vergebende Jesus ausführt. Der Schuldiggewordene darf leben, nicht nur irgendein Leben fristen, sondern weiter als König wirken. Aber die Folgen des vergebenen Verbrechens bleiben dem begnadigten Täter nicht erspart. David freut sich auf den ersten Sohn, den ihm Bathseba gebären soll, den Thronfolger seines Herzens. Er wird ihn hergeben müssen. Das Kind wird sterben. Erst ein weiterer Sohn der Bathseba, Salomo, wird leben und nach David der zweite große König des kurzlebigen Doppelkönigreiches von Juda und Israel sein, in dem tatsächlich das Schwert nicht zur Ruhe kommt. Soweit die fernsehreife Geschichte. Faszinierend, aber doch ein bisschen weit weg. Nicht wegen der drei Jahrtausende. Eher sind es die sozialen Welten, die uns trennen. Diese schmutzigen Tricks à la David kann sich kein normaler Casanova leisten. Allerdings beruhigend zu wissen, dass Gottes Gebote für das Zusammenleben der Menschen auch für die ganz da oben gelten.
Aber Hand aufs Herz! Muss ich wirklich König sein oder Wirtschaftskapitän, um bei sich bietender Gelegenheit über einen Mitmenschen herzufallen wie David über Uria? Müssen überhaupt Frauen im Spiel sein oder viel Geld? In meinem Leben war diese Situation gar nicht so selten: da habe ich z.B. mit einem Menschen zu tun, der nervlich und seelisch erheblich angeschlagen ist. Wie ich mich jetzt verhalten werde, kann ihn ein wenig aufrichten, ihm Hoffnung geben – oder ihn vollständig im Boden versinken lassen. Was da vom Seelsorger erwartet wird, liegt auf der Hand. Aber solche Oben-Unten-Begegnungen, um nicht zu sagen Konfrontationen, sind ja auch Teil unseres Alltags. Das eine gewollt böse Wort, das scheinbar endgültige Urteil über meinen Nächsten kann seelischem Mord gleichkommen wie die Intrige des David. Diese Gefahr ist umso größer, je mehr der andere abhängig ist, gerade von meinem Respekt, von meiner Anerkennung.
David-Uria-Verhältnisse machen sich breit auch unter uns kleinen Leuten. Ob Gott uns dann immer einen so spektakulären Warner schickt wie den furchtlosen Nathan, bleibt ungewiss. Aber die Stimme des Gewissens redet meist klares Deutsch. Wir wissen es in der Regel, wenn wir andere Menschen für uns bluten lassen, materiell oder seelisch. Für diesen Fall hat David es uns vorgemacht. „Ich bin schuldig geworden vor Gott.“ Weil dem die Schwachen ganz besonders nahestehen. Aus der Vergebung kommt die Kraft für den neuen Anfang, auch wenn der wie bei David einen hohen Preis fordern sollte. Eine Geschichte, die zu Jesus passt, auch wenn sein Name logischer Weise nicht fällt. Wer ist dieser Kerl, dass er Sünden vergibt auf Erden, fragen seine frommen Kritiker. Nichts anderes ist sein Auftrag – und er gibt ihn an uns weiter.