Misericordias Domini 4. Juni 2008
Der
HERR ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
Er weidet
mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen
Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf
rechter Straße
um seines Namens willen.
Und ob ich schon
wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn
du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Du
bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.
Du
salbest mein Haupt mit Öl
und schenkest mir voll ein.
Gutes
und Barmherzigkeit
werden mir folgen mein Leben lang,
und
ich werde bleiben
im Hause des HERRN immerdar.
(Psalm 23)
Kaum ein Konfirmand meiner Generation, der den 23. Psalm nicht neben den Zehn Geboten und dem Glaubensbekenntnis auswendiggelernt hätte. Unsere Pastoren, die als Soldaten den 2. Weltkrieg überlebt hatten, sprachen mitunter von der „eisernen Ration“ im Gedächtnis, die sich in Gefangenenlagern ohne Bibel bewährt hätte – darunter die Worte von Gott, unserem Guten Hirten. Bei den Lesungen von Epistel und Evangelium habt ihr bemerkt, dass das Hirtenmotiv diesen ganzen 2. Sonntag nach Ostern prägt. Der im Johannesevangelium überlieferte Ruf Jesu „Ich bin der Gute Hirte“ ist wie der 23. Psalm vielen Christenmenschen auswendig geläufig. Die Vielzahl der Hirtengeschichten und Hirtenbilder in der Bibel ist Ausdruck einer vergangenen Wirtschaftsweise. Die sog. Patriarchen Israels, angefangen bei Abraham, waren wohlhabende Herdenbesitzer. Sein Sohn Isaak beherrschte alle Tricks dieses Berufes. Dessen Enkel Josef wird bei der Inspektion der väterlichen Herden von seinen Brüdern überlistet und in die Sklaverei verkauft. David, der ewige Nationalheld Israels, wird als junger Hirte für sein späteres Königtum ausgewählt und gesalbt. Professionalität, Verantwortungsbewusstsein und Mut eines guten Hirten waren eines der großen Tugendbilder, mit denen Jungen in Israel aufwuchsen. Es fällt mir schwer, aus unserer modernen, arbeitsteiligen Welt einen Beruf zu nennen, der eine ähnliche Bedeutung als Leitbild hätte. Die wenigen Hirtinnen und Hirten, die heute ihre harte Arbeit im Wesentlichen als Umweltschützer tun, stehen jedenfalls nicht im Zentrum öffentlicher Wertschätzung.
„Der Herr ist mein Hirte“ hat deshalb etwas unvermeidlich Nostalgisches. Aber Gott will sich mit uns nicht langvergangener Zeiten erinnern. Er will heute unsere Füße auf den Weg des Lebens richten. Also wage ich mal einen Vergleich, von dem ich weiß, dass er schief ist. Wie hört sich das an? „Der Herr ist mein Pilot. Ihm kann ich mich anvertrauen. Ich muss keine Turbulenzen fürchten. Er bringt mich sicher ans Ziel.“ Wer ins Flugzeug steigt, kennt ja das Gefühl, sich der Tüchtigkeit eines anderen anvertrauen zu müssen. Einen Omnibus könnte ich in der allergrößten Not noch vom Fleck bewegen. Schließlich handelt es sich im Prinzip um ein Auto, nur eben größer. Aber ein Düsenjet? Da hilft mir alles, was ich gelernt habe, nicht weiter. Und für alle Fälle ist es beruhigend zu wissen, dass es da neben dem Piloten noch den Kopiloten gibt. Der Pilot ist ein Mensch wie ich. Mein Leben ist genauso viel wert wie seines. Aber wenn ich in seinem Flugzeug sitze, bin ich ihm etwa so ausgeliefert wie ein Herdentier der Tüchtigkeit des Hirten.
Das macht es auch leichter, das Bild von den Schafen gelten zu lassen. Denn es braucht heftige Gefühle, um andere Menschen mit Tiernamen zu bedenken oder sich selbst so nennen zu lassen. Mäuschen, Hase, Bärchen entspringen der Verwirrtheit der Verliebten. Wer eine Frau sein „Pferdchen“ nennt, dürfte der Zuhälterei nachgehen. Hund, Ratte, Schwein sollen als Nachrede oder gar Anrede beleidigen. Nun ja, und Schaf? Dummes Schaf, blöder Hammel klingen als Untertöne mit. Selbst die Rolle des Schaffleisches in der Küche der Muslime belastet bei manchen Leuten das Image der Schlachttiere.
Für die Gläubigen Israels ist das ganz anders. Das Schaf ist kein Tier wie jedes andere. Es ist als Passahlamm Teil der Liturgie, mit der sich Israels Familien der Befreiung aus der Sklaverei erinnerten. Schafe spielen unter den Opfertieren eine besondere Rolle. Ihr Sterben ist Zeichen der Versöhnung mit dem heiligen Gott. Ihr Blut wird stellvertretend vergossen. Uns Christenmenschen kommen sofort die Worte des Johannes über Jesus in den Sinn: „Seht das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt.“ Das Schaf, ein Mitgeschöpf, das Gott auf schicksalhafte Weise besonders nahe ist, ein Bindeglied zwischen ihm und uns.
Darum beten die alten Israeliten eines der bewegendsten Glaubensgedichte, unseren 23. Psalm, ohne Beklemmung und Angst um ihre Menschenwürde: „Der Herr ist mein Hirte“ Unter den vielen Hirtentexten der Bibel ist er einer der wenigen, der aus der Perspektive der Tiere gesprochen ist. Nicht, um das Jesuswort aus dem Sonntagsevangelium zu zitieren: „Ich bin der gute Hirte“, sondern in umgekehrter Blickrichtung: „Der Herr ist mein Hirte.“
„Mir wird nichts mangeln.“ Vier Worte des Vertrauens, ohne Vorbehalt. Wie immer, wenn es um Vertrauen geht, in die Zukunft gerichtet. Die Zukunft in der Lebensgemeinschaft mit Gott ist frei gemacht von Zukunftsangst. Wir kennen unsere eigenen Zukunftsängste, genährt von Bildern möglichen Unheils, die uns allein betreffen, ebenso wie von solchen, die die Menschheit als Ganze treffen können. Dabei könnten uns die Zukunftsängste eines orientalischen Menschen lange vor Jesu Lebzeiten erst recht in Panik versetzen: Hungersnot, Missernte, Krieg, Seuchen, früher Tod. Das Glaubensbekenntnis „Mir wird nichts mangeln“gründet sich deshalb auf die bisherige Lebenserfahrung. In den Worten des Psalms
„Er
weidet mich auf einer grünen Aue,
er führt mich zum frischen
Wasser.
Er erquickt meine Seele.
Er führt mich auf rechter
Straße
um seines Namens willen.“
Ich bin mir sicher, wir hören hier nicht einen Schönwetterbericht über ein Leben ohne Unwetter und Not. Diese Worte sind eine Bilanz von Licht und Schatten, Angst und Trost, Unglauben und Glauben. Etwa wie in dem Choral: „Bis hierher hat mich Gott gebracht durch seine große Güte.“ In der Bilanz hat Gott mein Leben bis heute vor dem Scheitern bewahrt. Wenn man so will, auch aus Eigennutz „um seines Namens willen.“Gott ist auf die Loblieder derer angewiesen, die mit ihm wirklich gute Erfahrungen gemacht haben. Lieder wie dieser 23. Psalm sind sozusagen die bevorzugten Werbemittel Gottes in unserer Menschenwelt. „Mir wird nichts mangeln“ gilt deshalb ausdrücklich auch dann, wenn Unheil droht.
Und
ob ich schon wanderte im finsteren Tal,
fürchte ich kein
Unglück.
Denn du bist bei mir.
Dein Stecken und Stab
trösten mich.
An Trost wird es nicht fehlen. Das ist die Hoffnung, die den Niederlagen und Leidenstagen des Lebens gewachsen ist. Gott bewahrt nicht vor jedem Leid. Aber er tröstet, er gibt Halt im Leid. Nur Gott selbst weiß, wie viele Menschen sich schon an diese Gewissheit gehalten haben. In der Einsamkeit einer tödlichen Krankheit oder einer zerbrochenen Beziehung ebenso wie unter denen, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgung leiden. Erfüllt vom Vertrauen auf den Gott, der nicht ins Bodenlose fallen lässt, verlässt der Dichter das Bild von Herde und Hirten. Er wechselt in die Menschenwelt und zum Bild der Gemeinschaft um einen Tisch:
Du
bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.
Lange vor dem Abendmahlstisch Jesu glaubte Israel bereits, Gott setze sich in besonderen Stunden mit den Vertretern seines kleinen, erwählten Volkes an einen Tisch. Mit Gott an einem Tisch sitzen: ein Zeichen letzter, unverlierbarer Geborgenheit. Schließlich:
Du
salbest mein Haupt mit Öl
und schenkest mir voll ein.
Die Salbung, daran müssen wir uns erinnern, war zu Israels Zeiten das herausragende Zeichen der Erwählung. Kein Königtum ohne Salbung. Die damals den 23. Psalm beteten, gaben damit der kühnen Überzeugung Ausdruck, sie seien Gott nicht weniger wert als der so menschliche Gottesmann David. Was dem großen David versprochen war, was sich in seinem Leben erfüllte, nimmt der Dichter deshalb auch für sich, für uns alle in Anspruch:
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang.
Gutes, das was sich in der Rückschau des Lebens als wirklich gut bewiesen hat. Und Barmherzigkeit. Die große Regung in Gottes Herz, mit der er bereit ist, alles zuzudecken, was ich ihm und meinen Nächsten schuldig geblieben bin. Die letzte das Leben rettende Gabe ohne Gegengabe.
Deshalb werde ich bleiben im Hause des Herrn immerdar.
Jüdinnen und Juden beten diesen Psalm, obwohl der Tempel in Jerusalem seit bald 2000 Jahren nur noch in den Herzen der Glaubenden steht. Wir beten ihn, obwohl das Haus unseres Glaubens sehr oft einer Ruine gleicht. Aber wir kennen Jesu Versprechen:
In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Und ich gehe hin, euch den Platz zu bereiten.