Cantate , 24. April 2005
Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder. Er schafft Heil mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm.
(Psalm 98, 1-2)
Im Kirchenchor meiner Jugend war noch kein Mangel an Männerstimmen. Aber unser Chorleiter war trotzdem oft verzweifelt. Sein Problem hieß Karl, einer der Tenöre, seines Zeichens Metzgermeister und Sänger mit Leib und Seele. Karl benutzte das Gemeinschaftsunternehmen Chor hartnäckig als persönliche Bühne. Gesang war erst schön, wenn er selbst laut, deutlich und leider auch schrill herauszuhören war. Kaum eine Probe, bei der unser Kantor nicht versuchen musste, den solistischen Drang von Karl zu bremsen. Leicht war das nicht, denn Karl war zugleich Presbyter und ein wichtiger Sponsor. Richtig in die Chordisziplin einzubinden war er nie. Karl fiel mir wieder ein, als ich den heutigen Sonntagsnamen „Kantate“ und das Anliegen dieser Predigt bedachte. Natürlich denken wir an den bestbesuchten Gottesdienst, der heute auf Gottes Erdboden stattfindet, den zur Amtseinführung von Papst Benedikt XVI, unserem deutschen Landsmann und Bruder Josef Ratzinger. Bruder in jedem Fall, ob wir ihn zu lieben meinen oder anders über ihn denken. Die Bezeichnung „Bruder“ geht mir in unserer Kirchensprache leicht und gern über die Lippen, seit einer meiner früheren Superintendenten ein für alle Mal zu diesem Thema festgestellt hatte: Freundinnen und Freunde sucht man sich aus, Brüder und Schwestern hat man. Bruder, zu Nicht-Blutsverwandten in der Kirche gesagt, das heißt: Du und ich, wir gehören jenseits aller Sympathiewerte oder Meinungsverschiedenheiten zusammen, weil Jesus es so will. In diesem Fall natürlich Bruder Josef Ratzinger, du und ich.
Das Echo auf seine schließlich doch überraschende Wahl erinnert mich am Kantate-Sonntag peinlich an unseren schrillen Show-Tenor aus dem Kirchenchor vor bald 50 Jahren. Der arme Benedikt XVI kann nichts dafür. Aber sagt selbst, ist diese Schlagzeile aus der BILD-Zeitung noch an Unsinnsgehalt zu überbieten? „Wir sind Papst!“ Wir? Nun, die Atheisten, Muslime und Protestanten dieses Landes sowieso nicht. Und die zwei Prozent Katholiken in Magdeburg oder die 70 Prozent in Bayern? Sie mögen von Herzen in das „Habemus Papam“ eingestimmt haben. Aber „Papa sum“? So hieße das auf Latein. Ich bin Papst? Das sagt nur „dem Fischer sine Fru“ – wie Märchenfreunde wissen, mit fatalem Ausgang. Schriller hätte sich auch Karl nicht in Szene setzen können. Tags darauf die Krokodilstränen der Großmäuligen: „Hitlerjunge – Engländer beleidigen deutschen Papst“. Dabei war von englischen Revolverblättern nichts anderes zu erwarten. Das sind Äpfel vom selben Baum. Auch sie können nicht anders – wie Karl und BILD. Ernst zu nehmen sind dagegen bittere Kommentare, die es in Israel gegeben hat. Den Opfern der Nazis und ihren Kindern kann niemand Recht und Grund absprechen, beim Gedanken an einen deutschen Papst der Flakhelfergeneration von neuem Schmerz zu empfinden – völlig unabhängig von der Integrität des konkreten Menschen. Die Wähler und und der Gewählte im Konklave werden das bedacht haben, da bin ich mir sicher. BILD ist in diesen Tagen durch die Welt der Ökumene getrampelt wie der Elefant durch den Porzellanladen. Wer die Pressefreiheit will, muss das aushalten. Außerdem ist BILD keine Kirchenzeitung.
Aber machen wir uns nichts vor: für die Beziehungen in der weltweiten Christenheit ist es überhaupt nicht egal, wie Christenmenschen und Kirchen in Deutschland sich aufführen. Die Mehrheit all derer, die mit uns den Namen Christi tragen, sind in unserer Zeit Bürgerrinnen und Bürger der Dritten Welt. Unglaublich arm, auch verglichen mit der skandalösen neuen Armut in Deutschland, abhängig von vielen Entscheidungen, die in unserem Teil der Welt getroffen werden. Nur ein Beispiel, das mich derzeit stark beschäftigt: Afrikas betroffene Kinder brauchen Aidsmedikamente in Dosierungen und Darreichungsformen, die für sie geeignet sind. Sie sind davon abhängig, ob Europas und Nordamerikas Pharmafirmen so etwas entwickeln. Besondere Lust dazu haben die nicht. Denn bei den Armen Afrikas ist wenig zu holen. Und bei uns, wo man viel Geld verlangen kann, gibt es Gott sei Dank nur sehr wenige solche kleinen Patienten. Afrikas Mütter müssen also abwarten, ob sich bei uns trotzdem etwas regt. Ob eine Kampagne, die wir gerade beginnen, Erfolg haben wird? (Später im Jahr werden wir uns diesbezüglich wieder sprechen.)
Die Kirchen in den Armutsregionen der Welt sind notgedrungen Empfänger finanzieller Zuschüsse. Zugleich wissen die Christenmenschen dort inzwischen längst – auch wenn sie es bis zu ihrem ersten Besuch nicht glauben mögen – dass wir in unseren Gottesdiensten nur noch wenige sind, während bei ihnen die Kirchen aus allen Nähten platzen. Sie wissen, dass unser Alltag längst nicht mehr von christlichen Lebensregeln geprägt ist; dass es ziemlich schwer ist, in Deutschland einen Christenmenschen von einem Durchschnittsbürger zu unterscheiden. Sie wissen, dass die großen Mächte in unserem Teil der Welt reichlich und oft den Namen Gottes anrufen, wenn sie ihre Armeen in Marsch setzen. Alles tausendmal beklagt und gehört. Aber ernst genommen? Wir sehen unseren Platz in der weltweiten Kirche immer noch eher bei den Lehrenden als bei den Lernenden. Schließlich sind wir doch auch die Gebenden – und meinen damit Dinge, die mit Geld zu tun haben. Dabei ist kaum etwas über lange Zeit schwerer ohne Schaden zu ertragen, als immer der Nehmende zu sein. Und die Gebenden sind auch weit davon entfernt, die Linke nicht wissen zu lassen, was die Rechte tut. Wie zur Bestätigung aller Gefahren, die dem empfindlichen Gebilde Ökumene drohen, nun dieser hässliche Trompetenstoß: „Wir sind Papst.“ Dass das kein Witz sein sollte, sondern dumm-deutsch ernst gemeint war, konnte jeder merken, der weiter las.
Machen wir es besser! Der Kantate-Psalm zeigt die Richtung: „Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.“ Großartig sind nicht wir, schon gar nicht durch Selbstlob! Großartig ist, dass unser Gott die Welt nicht im Stich lässt. Jede Zeit, jede Generation hat Anlass, neue Lieder zu finden und zu singen. Ein neues Lied! Denn Gott bleibt nicht zurück in irgendeiner Vergangenheit. Unsere Zeit ist seine Zeit, unser Leben und alles, was heute mit uns lebt. Heute sprengt Gott Fesseln. Heute schlägt er Brücken. Heute macht er Mut. Jeder Sieg des Lebens über den Tod und über Todesmächte weckt die Kompositionslust in unseren Herzen.
Sagen wir dasselbe noch einmal mit anderen Worten, wie das die Psalmdichterinnen und -dichter so gerne tun: „Er schafft Heil mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm.“ Ein Bild für die nicht erlahmende Schöpferkraft Gottes. Gott hat unwiderstehliche power, müsste man im heutigen Deutsch-Englisch-Mischmasch sagen. Aber Gottes Arm stemmt keine Weltrekord-Gewichte. Seine Kraft heilt. Seine rechte Faust schlägt nicht k.o. Sie segnet. Sie heilt, sie segnet, indem sie Menschen gemeinschaftsfähig macht über tiefe Gräben hinweg. Jeder Chor ist ja ein Bild für Gemeinschaft und Gemeinschaftsfähigkeit. Darum ist der Tenor Karl ja so unangenehm aufgefallen, dass ich mich heute noch an ihn erinnere.
Wo ist unser Platz im Kirchenchor der Weltchristenheit, die sich allen Zukunftssorgen zum Trotz ihres Gottes freut? Um im Bild zu bleiben, wohl nicht im Sopran, in der Melodiestimme, die besonders ins Ohr geht und ein Lied im Gedächtnis verankert. Da sehe bzw. höre ich heute deutlicher die Stimmen der Kirchen, die tagtäglich das Evangelium für die Armen predigen und praktizieren. Aller Schwäche, allem Versagen zum Trotz, das sich auch unter ihnen findet, sind sie für mich doch der aktuelle Sopran im Welt-Kirchenchor.
Aber wie der Schöpfer es so wollte: ich kann nicht Sopran singen. Trotzdem hat noch jeder Chorleiter, wo immer ich Gemeindeglied war, um mich geworben. Denn Männerstimmen sind inzwischen Mangelware. Wenn wir Christenmenschen Europas denn so etwas sind wie die Unterstimmen des Welt-Kirchenchores: die Frauenstimmen bleiben gar nicht gerne unter sich. Sie wissen, was sie an uns haben, dass sie uns sogar brauchen, wenn die ganze Schönheit einer Kantate, des neuen Liedes hörbar werden soll.
Unser Erbe, unsere Geschichte, unsere Erfahrungen, unser Potential wird in der Weltkirche geschätzt, auch geliebt – wenn es dem ganzen Kunstwerk der Ökumene dient, statt den anderen unter die Nase zu reiben, dass wir doch die Größten sind. In diesem Sinne: es lebe die Mehrstimmigkeit – im Kirchenchor der Markusgemeinde und rund um den Erdball.