2. Advent, 5. Dezember 2004
Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.
(Matthäus 7,12)
Fehlt eigentlich nur noch das Wörtchen „basta“. So knapp, so mit abschließender Autorität kommt das Jesuswort daher. Für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen gilt unterm Strich eine einfache Grundregel. Sie ist nicht nur das Fazit menschlicher Lebenserfahrung, sondern auch der Wille Gottes. Dessen Willensbekundung ist gemeint, wenn ein jüdischer Rabbi vom „Gesetz und den Propheten“ spricht. Der Volksmund fasst Lebenserfahrung und Gottesgebot zusammen und nennt dieses Jesuswort die „Goldene Regel“. Wie also wollen wir von den Leuten behandelt werden? Lassen wir mal die Liebe beiseite. Sie ist ein großes Ding. Und wir erwarten sie nicht wirklich von jedermann. Aber doch wohl Respekt und Gerechtigkeit. Ja, ich denke, das muss schon sein. Darauf können wir nicht einfach verzichten. Am allerwenigsten vielleicht auf den Respekt. Wer erträgt es schon, auf Dauer herumgeschubst zu werden, willkürliche Beleidigungen ertragen zu müssen? Egal, ob in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Firma, möglicherweise sogar in der Gemeinde. Und der gutgemeinte Rat, dass man sich ja nicht jeden Schuh anziehen muss – er hilft denen wenig, die schon zu viele Verletzungen ihrer Menschenwürde erlitten haben.
Aber Gerechtigkeit wollen und brauchen wir auch. Gerechte Lastenverteilung in Ehe und Familie, gerechten Lohn, gerechte soziale Ordnungen. Erlittene oder befürchtete Ungerechtigkeit macht wütend. Und das ist erst einmal nicht schlecht, denn es gibt Kraft, sich zu wehren. Unser Leben, unsere Arbeit, unsere Leistung soll zählen. Gerechtigkeit muss Gestalt gewinnen in konkreten Rechten oder sie bleibt bla-bla. Und die Stimme Gottes sagt dazu im Alten Testament: Der Arbeiter ist seines Lohnes wert. Was wir wollen, weil wir es brauchen, Respekt und Gerechtigkeit: unser Gott gönnt es uns. Jesus tut nichts anderes, als diese Lebensgrundlagen für die Mühseligen und Beladenen immer wieder herzustellen. Aber er erspart uns nicht die Kehrseite. Da sind deine seelischen und sozialen Grundbedürfnisse; was du für dich brauchst, gib, erweise es auch den andern! So wie die Bitte um das Tägliche Brot nur in der Mehrzahl gesprochen Segen verheißt! Deshalb will ich heute sprechen von Menschen, die für uns arbeiten, mit denen wir also zu tun haben; ohne deren Geschick und Mühen uns im Alltag gewaltig etwas fehlen würde, zu Hause und viele Male im Jahr auch hier in der Gemeinde.
Ich will reden von den Menschen, die im tropischen Gürtel der Erde für uns den Kaffee anbauen, ernten und verarbeiten. Kaffee, eines der allerwichtigsten Handelsgüter unserer Zeit, Profitbringer für wenige, Ursache unglaublichen Elends für mehr als 30 Millionen Menschen; Leben zwischen Hoffen und Bangen für ein paar zehntausend Familien, die ihre Hoffnung auf unsere Gemeinden in Deutschland setzen, weil wir sie eingeladen haben, sich auf den Fairen Handel einzulassen – eine Initiative, die es ohne unsere Kirchen nicht geben würde. Aber wir müssen wohl zuerst von der Vergangenheit reden. Speziell bei uns Älteren versagt schnell der gesunde Menschenverstand, wenn es um Kaffee, früher sagte man zur Unterscheidung um Bohnenkaffee geht. Es war ja ein Merkmal des Hitler-Krieges, dass es damals praktisch keinen Kaffee gab. Tabak auf Raucherkarte, ja. Alkohol reichlich. Kaffee aus Übersee, nein. Und nach dem Krieg war er unglaublich teuer; Schwarzmarktware im Westen, wichtiger Inhalt von Westpaketen hier. Und das Politbüro hat noch um 1980 eilige Tauschgeschäfte, Waffen gegen Kaffee, mit dem Diktator Äthiopiens ausgehandelt, um die Leute ruhig zu halten. Sagen wir´s so: dass die Zeiten halbwegs in Ordnung sind, merken Ältere in Ost und West daran, dass Kaffee an jeder Ecke zu haben ist und dass man keinen Pelzmantel dafür eintauschen muss. Aber wer tief drinnen den Lauf der Zeit am Kaffee misst, dem sei gesagt: falls schwere Zeiten kommen sollten, dann wird man es nicht daran merken, dass Kaffee wieder knapp und teuer wird. Eine groteske Überproduktion in mehr als 50 Ländern garantiert dafür. Vielleicht nett für uns, aber ein grausames Spiel für alle kleinen Leute, die vom Kaffeemarkt abhängen wie wir von unserem Arbeitsplatz oder der Rentenkasse.
Zeit, dass wir uns an die Goldene Regel Jesu erinnern: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Wir sind uns einig: Respekt und Gerechtigkeit zeigen sich immer konkret oder sie bleiben Phrasen. Diese 500-Gramm-Packung Kaffee habe ich gestern in einem Supermarkt unserer Stadt gekauft. Ich habe extra den teuersten Kaffee genommen, der dort zu haben war: 2,99 €. Nie war er so billig wie heute. Plantagenbesitzer, Importeur, Röster, Verpacker, Werbefirma, der deutsche Finanzminister, der Supermarkt, die Verkäuferin an der Kasse: alle wollen ihren Teil von den drei Euro. Der letzte, den die Hunde beißen, ist der Plantagenarbeiter, der die Sträucher pflegt, die Kaffeekirschen pflückt und aufbereitet. Ich weiß nicht, ob dieser Saisonarbeiter mit Familie drei Cent oder zehn Cent Arbeitslohn für alle Bohnen in so einer Pfunds-Tüte bekommt. Aber ich weiß: es ist ein Hungerlohn in der Wortes wörtlichster Bedeutung. An Schulbesuch der Kinder oder Medikamente im Krankheitsfall ist überhaupt nicht zu denken. Wenn Menschenwürde und Gerechtigkeit auch für Kaffeeplantagenarbeiter zählen, dann ist Kaffee nicht sündhaft teuer, sondern sündhaft billig. Wir machen diese Preise nicht, aber wir sind versucht, sie zu nutzen.
Weil dieser Skandal, wenn auch nicht so extrem wie heute, schon vor 35 Jahren existierte, versuchen Christenmenschen seit damals, wenigstens in einem kleinen Teilbereich für mehr Gerechtigkeit und Respekt zu sorgen: bei den Kaffee-Kleinbauern. Die müssen sich zwar nicht auf den Plantagen verdingen, sondern bearbeiten als Familien kleine Stücke eigenen Landes. Aber solange sie auf gewerbsmäßige Aufkäufer angewiesen waren, ohne eigene Organisation und Transportmittel, wurden sie ausgenommen wie die Weihnachtsgänse – mit demselben Ergebnis: Hunger und der ganze elende Rattenschwanz von Nöten. Seit den frühen 70er Jahren haben sich zehntausende Kleinbauern in Genossenschaften organisiert, zuerst in Lateinamerika, später auch in Afrika; dabei finanziell unterstützt und beraten von Kirchen und ihren Hilfswerken aus Deutschland und Europa, auch von „Brot für die Welt“. Wichtigste Erfindung: der Faire Kaffeehandel. Eine von den großen Kirchen angeschobene Firma, die GEPA, kauft Kaffee nicht so billig, wie´s irgend geht, sondern zu Preisen, die menschenwürdiges Leben und noch ein Stück Gemeinwesenentwicklung erlauben. Der Verkauf lief viele Jahre über die ehrenamtlich geführten Eine-Welt-Läden und Tausende von ambulanten Verkaufsstellen in Gemeinden. Die Arbeit in den Kaffeegärten bleibt hart genug, aber Eltern sehen wenigstens etwas Licht am Horizont für ihre Kinder. Heute gibt´s solchen Kaffee auch in manchen Supermärkten. Für uns kommen Kaffeepreise heraus, die irgendwo dazwischen liegen: zwischen den Hungerlohn-Preisen des normalen Handels und den Zeiten, da Kaffee ein Luxusgut war. Gelernte DDR-Bürgerinnen und -bürger müssten Bescheid wissen.
Soweit, so hoffnungsvoll. Wenn da nicht zwei Tatsachen wären, die christliche Gemeinden in Deutschland nach meiner Überzeugung verpflichten, sich von neuem Gedanken zum Kaffee zu machen. Einmal der aktuelle Kollaps des Welt-Kaffeemarktes. Wir merken ihn an abstürzenden Preisen. Aber Millionen gefeuerte Arbeiterinnen und Arbeiter merken ihn am Hunger. Und dann die Feststellung, dass gerade Gemeinden und kirchliche Einrichtungen den Fairen Kaffeehandel aufs Ganze gesehen bisher mehr als Lippenbekenntnis denn als ein Stück selbstverständlicher Praxis behandeln. Kaffee aus Fairem Handel zu trinken bleibt Privatsache von bereitwilligen Gemeindegliedern. Aber in den Kantinen kirchlicher Ämter und Krankenhäusern, in den Tassen bei Adventsfeier oder Gemeindefest, da schwappt das Billigste, was zu kriegen ist. Die einen wollen es billig, und die anderen wollen keinen Streit. Es ist ja bloß Kaffee. Längst ist der Eigenbedarf evangelischer Gemeinden an Kaffee ziemlich genau ausgerechnet. Weit weniger als 10% davon werden aus dem von uns selbst ins Leben gerufenen Fairen Kaffeehandel gedeckt. Wir überlassen es den Kantinen von Behörden, Ministerien, großen Firmen, mit Einverständnis der Belegschaften fairen Kaffee auszuschenken und verhalten uns selbst wie – Verzeihung – bockige Kinder. Dabei zählt im Überlebenskampf, der heute auch die Kleinbauern-Genossenschaften trifft, jede Tonne Absatz.
Weil wirklich Not am Mann, weil auch um die Glaubwürdigkeit unserer Kirche geht, hat sich „Brot für die Welt“ entschieden, seinen guten Namen für eine neue Mischung fair gehandelter Kaffeesorten aus fünf Ländern Lateinamerikas und Afrikas zur Verfügung zu stellen – so ähnlich wie Prominente, wenn sie sich für eine gute und gerechte Sache einsetzen. Diesen „Café Plus“ könnt ihr nach dem Gottesdienst in Augenschein nehmen – und auch kaufen. Aber eigentlich möchte ich die Gemeinde als Institution ansprechen und herausfordern. Wenn die Goldene Regel Jesu auch in den Wirtschaftsbeziehungen gilt, an denen wir teilhaben, dann sollten die Menschen um uns herum wissen, wo und wofür wir stehen. Ein Beschluss des Leitungsgremiums, dass die Gemeinde aus guten ökumenischen Gründen auf fairen Kaffee setzt, er wäre ein Signal. Denn jeder Lokaljournalist, der sein Geld wert ist, würde solch eine Mitteilung zur Berichterstattung nutzen. Viele Zeitung lesende oder Radio hörende Mitbürger würden angesprochen. In der Hoffnung auf eine Vielzahl solcher lange überfälliger Beschlüsse haben wir den Kaffee mit dem „Brot für die Welt“-Logo kreiert. Der gebeutelte Bundeskanzler möchte, dass wir in der Adventszeit mehr Geld ausgeben. Unsere Mütter und Väter im Glauben wollten, dass die Adventszeit eine Zeit der Umkehr, der Hinwendung zu Gott sein sollte. Bibelgemäß müssen wir Gott mehr gehorchen als dem Bundeskanzler. Und wenn schon mehr Geld ausgeben, dann, damit Menschenwürde und Recht der Armen wieder zu Ehren kommen. Wir können und müssen nicht überall Hilfe leisten. Aber wo wir es können, wo alle Weichen gestellt sind, bleiben uns keine Ausflüchte.
Ich sagte zu Beginn, wir wollten von den Grundbedürfnissen des Lebens mal die Liebe beiseite lassen und uns mit Respekt und Gerechtigkeit bescheiden. Aber Respekt und Gerechtigkeit sind Haltestellen auf dem Weg zur Liebe. Vielleicht ist Jesus deshalb in Sachen Liebe ähnlich knapp wie bei der Goldenen Regel. Welches ist das höchste Gebot?
„Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Das zweite ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“