3. Advent, 12. Dezember 2004
Und es begab sich, als Jesus diese Gebote an seine zwölf Jünger beendet hatte, dass er von dort weiterging, um in ihren Städten zu lehren und zu predigen. Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.
(Matthäus 11, 2-6)
Was muss eigentlich passieren, damit sich Menschen wirklich für das Evangelium interessieren? Diese Frage kann niemanden loslassen, dem die Gemeinde am Herzen liegt. In unserer Zeit muss ich sicher nicht erläutern, warum. Sichtbarstes Zeichen unserer Anwesenheit in der Stadt sind die Kirchen. Wenn wir etwas im Überfluss haben, dann Kirchengebäude. Jedes Dorf, jeder Stadtteil hat eines oder mehrere. Nicht wenige sind in erbärmlichem Bauzustand. Sanierungsbedürftige Kirchen können zu Mühlsteinen am Hals von Gemeinden werden, wenn sie alle Kraft der Gemeinde und jeden Euro, der sich aufbringen lässt, verbrauchen. Aber ein Magnet für die Herzen sind die Kirchengebäude nicht. Sicher, fast alle wollen, dass die Kirchen im Bild von Dorf oder Stadtteil erhalten bleiben. Heimat ist etwas, daran hängen fast alle. Aber dass innen drin in dem Gebäude etwas zu finden wäre, das sich zu suchen und mitzunehmen lohnt, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Nein, unsere Kirchen, ob baufällig oder instandgesetzt, wecken wohl nicht das Interesse am Evangelium.
So wie die Kirche ihre Kirchbauten hat, so hat sie auch ihre Pastorinnen und Pastoren. Nicht ganz so viele wie Kirchen, aber immerhin. Jedenfalls dürfte die Kirche deutlich mehr Pastorinnen und Pastoren haben als die Gewerkschaft Sekretärinnen und Sekretäre. Die müssten ja eigentlich gelernt haben, wie das Interesse der Menschen für die Sache der Kirche zu gewinnen ist. Niemals in ihrer ganzen Geschichte hat unsere evangelische Kirche mehr Menschen im Pastorenamt und anderen Verkündigungsdiensten beschäftigt als in der letzten Generation. Erst seit wenigen Jahren sind die Zahlen zwangsläufig rückläufig und werden es wohl bleiben. Manche kleinen Gemeinden teilen sich schon zu zehnt einen Pastor. Andere, so wie Ihr, haben derzeit keinen, von dem sie sagen können: „Unsere Pastorin, unser Pastor“. Und gerade von euch ist mir erzählt worden: „Die sind voller Selbstvertrauen und kommen gut mit der Situation zurecht.“ Es führt wohl nichts um die Feststellung herum: das kopfstärkste Pastorenkontingent unserer Kirchengeschichte war und ist außerstande, bei Außenstehenden wirkliches Interesse an der Botschaft Jesu zu wecken.
Was bleibt? Bleibt noch irgend etwas? Wie ist es Jesus selbst ergangen in dieser Sache? In der kurzen Geschichte vom Anfang ist die Frage nach Jesus zur wichtigsten Frage geworden, in der ein Mensch angesichts seines drohenden Todes noch Klarheit gewinnen muss: „Bist du es, der da kommen soll? Oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Eine Willkürentscheidung hat Johannes den Täufer ins Gefängnis des Herodes gebracht. Der Gefangene weiß, wie unberechenbar der Herrscher mit Menschenleben umgeht. Umso dringender sucht er Frieden für seine geängstigte Seele. Hat er selber seinen Auftrag erfüllen können? Hat Gott wahr gemacht, was er versprochen hat? Haben seine Augen den Heiland gesehen? Kann er Gefängnis und Todesdrohung ertragen in der Gewissheit, dass nicht uns trennen kann von der Liebe Gottes? Weil Gottes Liebe Gestalt und Leben gewonnen hat in Jesus von Nazareth? Johannes stellt keine Fragen, die mit theologischem Sachverstand zu beantworten wären. Er stellt Fragen des Herzens. Mit solchen Fragen, solchen Hilferufen des Herzens klammern sich Menschen an Jesus. Auf jeder Seite der Evangelien finden sich solche Begegnungen. Jesus nennt Menschen in solchen Lebenssituationen zusammenfassend die Mühseligen und Beladenen – mühselig und beladen, unabhängig davon, ob sie in einer römischen Offiziersuniform, im feinen Zwirn eines Oberzöllners oder in den Lumpen der Leprakranken und blinden Bettler daherkommen. Das Interesse an Jesus kommt zu seinen Lebzeiten aus einer eindeutigen Hauptrichtung. Es kommt von unten, wenn man die Gesellschaft nach arm und reich, ehrbar und anrüchig, mächtig und bedeutungslos einteilen will. Ausnahmen bestätigen diese Regel; aber der Trend ist nicht zu leugnen. Hirten statt Herren, anrüchige Frauen statt Palastdamen, Behinderte statt Erfolgsmenschen. Persönlichkeiten aus der religiösen und politischen Chefetage finden sich eher unter denen, die Jesus loswerden möchten – Jesus, eine Gefahr für Gott und für ihre Welt.
Wahrscheinlich überhören wir viel wirkliches Interesse am Evangelium, Interesse vom Gewicht der Johannes-Frage, weil wir in diese Richtung einfach nicht horchen. Uns allen, vom Bischof bis zum braven Christenmenschen, liegt einiges daran, dass uns die Klugen und Mächtigen gelten lassen, besser noch, ernstnehmen. Viel Geld und viel Arbeitskraft in unserer Kirche wirkt in diese Richtung. Ich will nicht dagegen zu Felde ziehen. Schließlich hat auch Jesus ein Urteil über die öffentlichen Dinge seiner Zeit: er anerkennt den Cäsar und zieht ihm seine Grenze; er macht weder den höchsten Priester lächerlich noch den Statthalter Pilatus. Aber das andere Ohr der Gemeinde muss frei bleiben. Und da wir nicht zu den Tieren gehören, die mit zwei beweglichen Ohren gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen hören können, müssen wir sogar den Kopf drehen. Hören und sehen gehen bei uns zwangsläufig in eins. Aus Gehörtem werden schließlich Bilder, unzählige Male in einem Menschenleben. Aus dem, was der isolierte Gefangene Johannes von Jesus hört, werden die Bilder, die schließlich die abschließende Frage seines Lebens reifen lassen, „als Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte.“
Die zweite so ungeheuer einfache Beobachtung: selbst bei Jesus sind es nicht die Worte für sich allein, sondern die gewaltigen Veränderungen, die sie im Leben von Menschen bewirken, eben diese Werke Christi, die von Mund zu Mund gehen, die seine Worte einschließen, aber niemals ohne die Zeugnisse von konkreten Heilungstaten, Rettungen, Siegen über Dämonen und Naturgewalten. In Jesu Nähe ist die alte Welt aus den Fugen geraten, zum Heil der Mühseligen und Beladenen. Eine Gemeinde, in deren Lebenskreis nichts, aber auch gar nichts mehr geschieht von den Werken Christi, sie mag immer noch aller Ehren wert sein. Sie mag Heimat bieten und Geborgenheit. Aber kein Johannes oder auch nur ein ganz gewöhnlicher verzweifelter Mensch wird auf die Idee kommen, dort den rettenden, den anerkennenden Gott oder einen Neuanfang zu suchen.
Ich bin heute nur ein Gast in eurer Gemeinde. Ich weiß nicht, wie viel von den Werken Christi in dieser Gemeinde lebt, jenseits evangelischer Ordnung und Routine. Aber wir können den Test versuchen. Denn Jesus gibt den Gesandten des Johannes ja eine Antwort. Er sagt nicht Ja oder Nein und legt trotzdem, wie wir sagen, seine Karten auf den Tisch: „Sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht.“ Es folgt eine Aufzählung atemberaubender Dinge. Und doch sind es ziemlich genau dieselben, die Jesus später seinen Jüngern selbst zu tun aufträgt. Jedem dieser Stichworte entsprechen eine Reihe weltbekannter und viele unbekannte Nachahmungstaten in der Geschichte der Kirchen. Checkliste nennen wir so etwas heutzutage. Checklisten sollen, jenseits von Gerede, zu konkreten Resultaten führen. Jesu Checkliste zur Meinungsbildung, zur Glaubens-Meinungsbildung der Johannes-Jünger: Blinde sehen und Lahme gehen. Jesus befreit die Abgeschriebenen, die am vollen Leben Gehinderten aus der bitteren Isolation der Almosenempfänger.
Ich sehe die bewegenden Bilder vor mir, die immer wieder auch einmal im Fernsehen mitzuerleben sind, wie die Werke der ärztlichen Mission viele, viele Armutsblinde aus ihrer Nacht befreien. Ich sehe die Kinder, denen Landminen einen Fuß abgerissen haben, mit Begeisterung und einfachen Prothesen Fußball spielen. Leprakranke werden rein. Das Entscheidende war ja nicht nur die medizinische Heilung, sondern dass die Gesellschaft die Menschen wieder aufnahm. Und ich verfolge seit Jahren, wie die Kirchen in den von Aids gezeichneten Ländern (ungleich schlimmer gezeichnet, als es die Lepra je vermochte), wie diese Kirchen es nach und nach gelernt haben zu predigen und zu praktizieren, dass Aidskranke rein sind vor Gott und dass sie deshalb auch für die Gemeinde Jesu nicht unrein sein können. Tote stehen auf, und Armen wird die frohe Botschaft gepredigt. Ach, ich weiß von so vielen Menschen, die sagen, dass sie tot waren. An was kann ein Mensch nicht alles den seelischen Tod sterben! Und schlimmer als der Hungertod ist der Hunger selbst – und den eigenen Kindern nicht geben zu können, was sie unbedingt brauchen. Sie alle, in der Nachbarschaft und in der Ferne, bilden das Heer der Armen. Sie alle sehen und hören von Jesus: Gott steht hinter uns und neben uns. Nicht um uns einzulullen, sondern um uns aufzurichten, um mit uns in die Zukunft zu gehen. Johannes, Bruder Johannes im Todestrakt, finde daraus die Antwort, die dich hält! Statt den Kopf zu schütteln und in deiner Seelennot zu verharren.
Was ergibt die Checkliste, wenn ihr das Leben eurer Gemeinde auf die Wiedererkennbarkeit der Werke Christi befragt? Wenig? Allzu wenig? Am Neubeginn steht unser Gebet: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben“. Und wahrscheinlich findet sich gerade in dieser Jahreszeit dann rasch das erste Lehrstück, an dem wir uns in den Werken Christi üben können – damit die Neugier auf Jesus bei anderen von neuem erwacht.