Karfreitag, 25. März 2005
Und oben über seinen Kopf befestigten sie ein Schild mit dem Grund seines Todesurteils: Das hier ist Jesus, der König der Juden
(Matthäus 27,37)
Dieses Frühjahr ist die Zeit der 60 Jahre alten Bilder. Nur noch für eine Minderheit von uns heutigen Deutschen eingebrannt in die persönliche Erinnerung. Aber der große Abstand macht es den Jungen wiederum leichter, unbefangen zu fragen, wie es denn gewesen ist – und wie es dazu kommen konnte. Zu den Bildern jener Katastrophenmonate, als der Raub- und Mordkrieg an seinen Ausgangsort zurückkehrte, gehört auch dieses: an den Straßenlaternen der Berliner Innenstadt hängen die Leichen junger deutscher Soldaten – aufgehängt von Mordkommandos, die mit nackter Willkür wüten. Ein berühmt gewordenes Foto zeigt eines der Opfer mit einem Pappschild um den Hals, darauf geschmiert: „Ich habe mit den Bolschewisten paktiert.“ Umgebracht auf offener Straße; aufgeknüpft, gleich gruppenweise und, damit die Abschreckung auch funktioniert, das Schild um den Hals. Der junge Mann in deutscher Uniform hat in den letzten Stunden des Krieges ebenso wenig mit dem Feind paktiert, wie Jesus von Nazareth den Kaiser in Rom von seinem Thron stoßen wollte. Aber um sie, die da umgebracht werden, geht es gar nicht. Es geht um die, die zu Augenzeugen werden, in der Trümmerwüste von Berlin-Mitte wie auf dem Hinrichtungsplatz vor den Toren Jerusalems: so endet einer, der so redet und handelt. Also sieh dich vor. Und es funktioniert. Die Passanten halten sich den Foltertod Jesu vom Leibe, indem sie das Opfer höhnen und verspotten: Zeig, was du kannst! Für Gottes Sohn ist es doch ein Klacks, von einem Kreuz los zu kommen. Das Volk und seine frommen Wortführer verhalten sich diesbezüglich genau gleich. Nur, dass die Gesetzeslehrer und Ratsherren zusätzlich ein Gottesurteil vorschlagen: „Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat.“ Das denunzierende Schild über Jesu Kopf hat mich schon als Kind beschäftigt. INRI steht da in lateinischer Abkürzung auf den meisten Kruzifixen. INRI für „Jesus Nazarenus Rex Judaeorum“, Jesus von Nazareth, König der Juden. Meist deuten die Maler oder Holzschnitzer an, dass es sich um ein Schild aus so etwas wie Papier handelt. Die Buchstaben sind säuberlich gesetzt, in Schönschrift, nicht selten in Goldbuchstaben ausgeführt – natürlich in bester frommer Absicht. Ich denke, wer sich dem Karfreitag Jesu annähern will, sollte eher an das Schild um den Hals der deutschen Soldaten vor 60 Jahren denken. So wie in Berlin auch in Jerusalem hingeschmiert von einem Mitglied des Exekutionskommandos, weil es so befohlen war bei dem Delinquenten in der Mitte. Bei den anderen beiden, Kriminellen, war kein Kommentar nötig. Das hingeschmierte Schild zur Abschreckung all derer, die sich vielleicht beim Einzug dieses Menschen in Jerusalem die Lunge aus dem Hals gebrüllt hatten vor Begeisterung. Damit die Affäre Jesus von Nazareth auch wirklich ein für allemal zu Ende ist.
Jesu Kreuzestod als abschreckendes Beispiel für alle, die sich nach diesem Gott sehnen, von dem Jesus spricht, in dessen Namen er Liebe und Brot ausgeteilt hat. Aus seiner Verhörakte vor dem Gouverneur wird zitiert, was so sicher zum Todesurteil führt wie im April 1945 die Behauptung, einer habe nicht mehr auf die Russen schießen wollen. Pilatus als Behörde entscheidet auf crimen maiestatis, auf Beleidigung und Herausforderung des Cäsar. Pilatus als Mensch hatte dabei ein ganz schlechtes Gefühl. Er wäscht, wie wir wissen, seine Hände in aller Öffentlichkeit in Unschuld. Aber Rom ist ein Rechtsstaat. Wenn ein Todesurteil in Judäa um des inneren Friedens willen sein muss, dann mit einer ausreichenden formalen Begründung! Aber hat er es wirklich so gesagt? Das ist die einzige Frage, die der Evangelist Matthäus aus dem Verhör Jesu wörtlich wiedergibt: „Bist du der König der Juden?“ Antwort: „Du sagst es.“ Kein Wort mehr. Auf keine der weiteren Fragen. Und Pilatus versucht wirklich, diesen Jesus zum Reden zu bringen, im Guten. So steht nur das Wort vom „König der Juden“ im Protokoll.
Pilatus weiß ganz offensichtlich, wie es nicht gemeint ist, nämlich als machtpolitische Kampfansage. Aber wenn er den Dingen seinen Lauf lässt, muss er sich für diese Urteilsbegründung entscheiden: „König der Juden.“ Seine Anordnung wider besseres Wissen wird so Bestandteil unserer Kruzifixe. Jesus von Nazareth, König der Juden? Der Evangelist Matthäus zeigt Jesus nicht anders als jede gequälte menschliche Kreatur, die im Namen eines Gesetzes ums Leben gebracht wird. Ein verzweifelter Satz und ein wortloser Schrei, mehr nicht aus sechs Stunden Todeskampf. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Größere Fassungslosigkeit, tiefere Verzweiflung ist kaum in Worte zu fassen für einen, der die Worte des Vaterunsers formulieren konnte. Da wird das „König der Juden“-Schild wirklich zum Hohn. Und der wortlose Todesschrei des letzten Augenblicks ist ohne Antwort. Selbst die beiden anderen Sterbenden spielen bei Matthäus neben der bloßen Erwähnung keine Rolle. Jeder stirbt für sich allein, in des Satzes furchtbarster Bedeutung.
Anders etwa als die Todesopfer der studentischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Der Film „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ setzt diese wenigen Augenblicke ins Bild, wie drei junge Menschen es schaffen, einander zu umarmen und sich Kraft zu geben für den letzten Schritt auf einem Weg, den sie so und nicht anders gehen mussten. Der „König der Juden“ stirbt keinen Tod der Erfüllung, sondern der Verzweiflung. Er ist ein König ohne Volk. Und was war das für ein Volk, das ihn im Herzen trug: Leprakranke, Blinde, Geisteskranke, Frauen mit schlechtem Ruf, Bettler, unmündige Kinder, Arme, Betrüger – Gesindel eben, das vom heiligen Gott und seinem Gesetz keine Ahnung hat. Solchen Leuten ist leicht weiszumachen, dass der gerechte und helfende König, der den Gottesbund wieder in Kraft setzt und Israels Wunden heilt, auf einem Esel in Jerusalem einzieht. Und hat sich Jesus nicht ausdrücklich zu dieser Art Volk bekannt? Das hat er nun davon! Er stirbt als König ohne Volk. Aus dem engsten Jüngerkreis ist nach Matthäus niemand Zeuge der letzten Stunden Jesu.
Die Kirche des Auferstandenen, ja eigentlich schon der Evangelist Johannes in seinem ganz anders erlebten Karfreitagsbericht hat das Abschreckungsschild über dem Kopf Jesu zum Siegeszeichen umgedeutet. Missverstanden und missbraucht, führt das bis hin zu den schrecklichen Irrtümern der Kirchengeschichte, nämlich dass die Kirche im Namen dieses Königs zur Weltherrschaft und zur Herrschaft über die Gewissen berufen sei. Das hat Ungezählte ihrerseits zu Opfern von Scheiterhaufen und Galgen gemacht. Ich weiß nicht, ob Gottes Barmherzigkeit groß genug ist, den Kirchen diesen Missbrauch des Schildes am Kreuz jemals zu vergeben. Mein Glaube wird durch dieses Wissen immer wieder erschüttert.
Der Karfreitag des Jesus von Nazareth, das ist der schreckliche Widerspruch zwischen dem Abschreckungsschild über seinem Kopf und dem Anklageschrei „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ein Leben ohne Gott hat für ihn seinen Sinn verloren. Und doch ist das die Bilanz der letzten Stunde: Gott hat mich verlassen. Ich fürchte mich vor solch einer Wahrheit. Es gibt viele Menschen, denen sie erspart bleibt. Sie können sterben in der Gewissheit, dass ihr Leben erfüllt war und ihr Tod darum leicht. Ihnen ist es gegeben, in Frieden zu sterben. Aber kann ich wissen, in welchem Leid und in welchem Aufruhr der Seele mein Leben zu Ende geht?
Wenn am Ende alles ins Wanken gerät, dann geht es mir so wie Jesus. Wahrscheinlich steht auf dem Schild, das mein Leben verspottet, etwas sehr anderes. Aber es verkündet Scheitern – so wie bei Jesus. Das meint Paulus sicher auch, wenn er von dem Eins-Werden mit dem Tod Jesu spricht. So endet der Karfreitag vor den Toren Jerusalems mit der furchtbaren Tatsache, dass dieser Jesus alles erlitten hat, was ein Menschenleben erdrücken kann. Aber ohne von Ostern etwas zu ahnen, sagt der Hauptmann des Hinrichtungskommandos: „Wirklich, der hier ist Gottes Sohn gewesen.“