20. Sonntag nach Trinitatis, 25. Oktober 2009
Und Pharisäer traten zu ihm und fragten ihn, ob ein Mann sich scheiden dürfe von seiner Frau; und sie versuchten ihn damit. Er antwortete aber und sprach zu ihnen: Was hat euch Mose geboten? Sie sprachen: Mose hat zugelassen, einen Scheidebrief zu schreiben und sich zu scheiden. Jesus aber sprach zu ihnen: Um eures Herzens Härte willen hat er euch dieses Gebot geschrieben; aber von Beginn der Schöpfung an hat Gott sie geschaffen als Mann und Frau. Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und wird an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein. So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Und daheim fragten ihn abermals seine Jünger danach. Und er sprach zu ihnen: Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht ihr gegenüber die Ehe; und wenn sich eine Frau scheidet von ihrem Mann und heiratet einen andern, bricht sie ihre Ehe.
(Markus 10, 2-12)
Ich beneide die Leute nicht um ihre Aufgabe. Hier heißt so ein Gremium „Kreiskirchenrat“. Im Westen hat es einen anderen Namen, aber die gleiche Aufgabe: die Aktivitäten und eben auch den Haushalt eines Kirchenkreises zu steuern und dafür gerade zu stehen. Weil man sich aus früheren Jahren kennt, ruft mich ein Ratsmitglied an und kommt schnell zur Sache: „Ich möchte deine Meinung wissen. Wir können wahrscheinlich nur noch eine unserer Sondereinrichtungen halten: entweder die Schuldnerberatung oder das Eine-Welt-Zentrum oder die Eheberatung. Was ist am wichtigsten?“
Was hättet Ihr geantwortet? Gehen wir mal davon aus, dass die Dritte Welt bei diesem Kampf ums wirtschaftliche Überleben die schlechtesten Karten hat. Das kann schließlich auch Attac oder „Brot für die Welt“ machen. Das muss zur Not auf ehrenamtliche Füße gestellt werden. Das ist zwar nicht meine Meinung, aber Kirchen handeln so, seit sie knapp bei Kasse sind.
Also Schuldnerberatung oder Eheberatung? Ich habe mich mal als Geburtshelfer einer Schuldnerberatungsstelle betätigt und dabei gelernt, ein wenig über den Tellerrand meiner wirtschaftlich unangefochtenen Existenz zu blicken. Und das war noch in einer beinahe „guten alten Zeit“. Da waren unter den Ratsuchenden noch viele, die tatsächlich recht leichtsinnig mit den Ratenzahlungsangeboten von Quelle oder dem Möbelhaus Soundso umgegangen sind.
Heute genügen eine Kündigung oder das Zerbrechen einer Ehe, dass auch sehr besonnene Leute ganz schnell vor einem finanziellen Desaster stehen können: Schuldenberge türmen sich auf, wo gestern noch alles solide geplant und machbar erschien. Eine Kirche, die dann Fachleute als Krisenhelfer anbieten kann, die kann wirklich neue Hoffnung wecken, wo nackte Verzweiflung herrscht. Ich habe längst mit „meiner“ Schuldnerberatungsstelle nichts mehr zu tun. Aber es tut mir gut, zu wissen, dass sie weiter an der Arbeit ist: beratend, aufklärend, verhandelnd, Mut machend.
Aber ich kann gut verstehen, wenn sich ein Kirchenkreis im industriellen Ballungsraum dafür entscheidet, in finanziellen Notzeiten wenigstens seine professionelle Ehe- und Partnerschaftskonflikt-Beratungsstelle zu erhalten. Jeder zweiten neu geschlossenen Ehe steht statistisch das Ende durch Scheidung bevor. Das zieht solch einen Rattenschwanz seelischer und auch körperlichen Leiden nach sich. Um der Liebe Christi willen muss eine Kirche da tun, was in ihren Kräften steht.
Dabei rede ich nicht von dem erheblichen Prozentsatz an Scheidungen, wo Männer und Frauen sich unter Umständen trennen, die eine Bewältigung von Niederlagen, Schuld und Enttäuschungen und echte Neuanfänge möglich machen – noch dazu, wenn keine Kinder in Mitleidenschaft gezogen werden. Das Raunen im Dorf hinter dem Rücken der relativ wenigen geschiedenen Frauen, wie es in meiner Kindheit typisch war, wünsche ich mir nicht zurück; zumal geschiedene Männer dieses Problem kaum hatten. Dass unsere Gerichte bei Scheidungen nicht mehr nach den Schuldigen suchen müssen, ist eine richtige Sache. Und dass die deutliche Mehrzahl aller Scheidungen von Frauen beantragt wird, muss uns Männern zu denken geben. So weit, so gut.
Aber wir wissen alle, dass das bei weitem nicht die ganze Wahrheit ist. Häusliche Gewalt, seelische wie körperliche; entleerter Alltag, Vertrauensbruch, sich ausbreitende Kälte, unfaire Lastenverteilung; willentlich zugefügte Verletzungen: wenige Stichworte stehen für so viele Leidenswege, dass wohl jede oder jeder von uns Menschen kennt, die es bis über die Belastungsgrenzen hinaus schwer miteinander haben – wenn wir nicht sogar über unser eigenes Leben reden.
Es gibt den charmanten Satz: „Das eindrucksvollste Zeichen von Toleranz ist eine Goldene Hochzeit.“ Aber wenn meine Frau und ich die erleben sollten, dann wird das nicht unser Verdienst sein. Wir haben einfach an ein paar bedrohlichen Klippen Navigationshilfe bekommen, so dass unser Eheschiff nicht auf Grund gelaufen ist. (Die Scheidungsrate in evangelischen Pfarrhäusern ist noch höher als im Durchschnitt der Bevölkerung.) Ich denke, wir alten Eheleute haben wenig Grund, den Jungen mit hochmütiger Besserwisserei zu begegnen.
Aber Jesus wird in unserem Sonntagsevangelium nicht zu Eheberatung, sondern zu Scheidung befragt – absichtsvoll wie immer, wenn die Elite der Frommen Israels ihn zur Rede stellt. Was tun, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist? Ein Ende mit Schrecken, um im schlimmsten Fall Schrecken ohne Ende auszuschließen?
Jesus sagt, ja, so ist die Ordnung. Damit meint er Israels Scheidungsrecht; religiöses Recht, wie alles Recht, das auf den Bund der Zehn Gebote gründet. Ein Recht, so archaisch ungerecht, so unverblümt patriarchalisch, dass es auch Männer schüttelt. Den Scheidebrief geben – der Mann der Frau – die Möglichkeit besteht. Israels Gottesrecht kennt auch ein paar Schutzbestimmungen für die Frauen. Aber im Regelfall kann nur der Mann den Scheidebrief schicken. Aus eigener Machtvollkommenheit, ohne Gericht.
Jesus ergreift nicht die Gelegenheit und ruft nach der Aufhebung des Scheidungsrechtes. Statt dessen deutet er es. Er ordnet es ein – in die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, zwischen Gott und Mensch. Scheidungsrecht ist ein Notbehelf. Ein Notbehelf angesichts der Diagnose „Hartherzigkeit“. Die körperliche Hart-Herzigkeit, die Arteriosklerose, fürchten wir. Sie ist ein Vorbote des Todes. Jesus spricht von der seelischen Hartherzigkeit. Sie kann unsere Beziehungen ebenso unbeweglich machen, unsere Seelen so verstopfen, dass eine Ehe ans Ende kommt.
Hartherzigkeit kann beider Seelen befallen, auch die des Partners, der nach menschlichem Urteil eher Opfer als Täter ist. Hartherzigkeit bedeutet: es geht nicht mehr – so wie verstopfte Gefäße jedes Treppensteigen zum tödlichen Risiko machen. Es gibt, will mir scheinen, eine Hartherzigkeit, die ist auch mit gutem Willen nicht mehr zu lösen. Um ihretwillen, sagt Jesus, hat Mose euch die Scheidung zugestanden.
Aber es tut Gott weh. Er sieht einen Teil seines Schöpfungstraumes scheitern. Er hat dich für anderes geschaffen. Das kannst du entdecken, wenn du dich erinnerst an deine Jugend, den Prozess der manchmal für alle Beteiligten anstrengenden Lösung von Vater und Mutter. Vater und Mutter loslassen, Söhne wie Töchter. Ein unverzichtbares Schöpfungsgeschehen, das sich in jeder Generation wiederholen muss. Und mehr als töricht die Eltern, die sich dem durch Anklammern in den Weg stellen.
Vater und Mutter loslassen – natürlich nicht verlassen, was den Sinngehalt des vierten Gebotes betrifft. Vater und Mutter ehren, das ist ja kein Disziplinierungsgebot für ungebärdige Bengel, sondern ein Verantwortungsgebot für erwachsene Kinder – bis heute z.B. eine unentbehrliche Stütze in der Welt der Armen – und deshalb in Kraft auch im Wirkungsbereich nicht-biblischer Religionen.
Vater und Mutter verlassen und eins werden mit einem Menschen, den Gott für dich geschaffen hat und den du doch nicht kanntest, als du zur Schule gingst, in die Lehre oder an die Uni – mal von Sandkastenlieben abgesehen. Im Rückblick einer Ehe, die den weitaus größeren Teil aller Erdenjahre ausfüllt, kann es einem fast irreal erscheinen, dass es da absolut prägende Jahre deines Lebens gab, wo du sie oder ihn nicht kanntest, selbst wenn sie nur ein paar Straßen weiter aufgewachsen wäre.
Eins werden, eine Zielvorgabe, ebenso knapp wie gewaltig. Tage der Arbeit, Tage der gemeinsamen Ängste, gemeinsam durchgestandene Kämpfe, überwundene Krisen, Tage und Stunden des Glücks, Zeiten der Veränderung zum Alter. Eins werden, denke ich, ist kein Zustand, sondern eine Entdeckung, die sich hin und wieder einstellt. Dann durchaus atemberaubend, wie wenn ein Wal aus der Meerestiefe zum Atmen auftaucht und wieder verschwindet. Wer ihn einmal gesehen hat, weiß: er ist da, auch wenn ich ihn gerade nicht sehe.
Gott hat diese Vision von eurem Leben nicht aufgegeben. Darum prägen dieselben seelischen Antriebe jede neue Generation: Vater und Mutter loslassen. Die Suche nach dem Lebensglück in Lebensgemeinschaft. Die Amerikaner haben das Anrecht darauf sogar in ihre Verfassung geschrieben.
Starrt deshalb nicht auf die Scheidungsstatistik wie das Kaninchen auf die Schlange. So verstehe ich Jesus. Sondern versucht zu entdecken, was möglich ist, was Gott schenkt. Bleibt ihm nahe, damit er eure Lebensgemeinschaften schützt vor der Arteriosklerose der Seele.