Maria in der Eiseskälte

4. Advent, 22. Dezember 2013


Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe. Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“.

(Lukas 2,7)

Einer der wenigen Sätze aus der Bibel, den wohl noch ein paar Millionen Deutsche auswendig hersagen können. Zur Dramatik unserer Krippenspiele gehört auch die „Herbergssuche“, eine Szene menschlicher Kälte, die die Volksfrömmigkeit der Geburtsgeschichte von Bethlehem hinzugefügt hat. Die Moral: eine Gebärende lässt man einfach nicht draußen stehen, egal wie gelegen oder ungelegen es kommt. Wer wollte es unseren Vorfahren und auch uns selbst verdenken, dass wir der Heiligen Familie in unseren Legenden und Bildern am Ende doch etwas mehr warme Geborgenheit im Notquartier von Bethlehem wünschen, bis hin zum wärmenden Atem von Ochs und Esel. Die kommen in unserer Original-Weihnachtsgeschichte ja gar nicht vor, wie Bibelleserinnen wissen. Sie sind aus alten Prophetenreden und der Bauernkultur vergangener Generationen in unsere Krippen „eingewandert“. Ja, wir wünschen uns Bethlehem etwas freundlicher, als es vielleicht war – ohne genau zu wissen, wie es wirklich war. Nein, der denkbar schlechteste Ort, ein Kind zu gebären, kann unser heiliger Stall nicht gewesen sein. Immerhin handelt es sich ja wohl um ein festes Gebäude, verstrichener Lehm oder Lehmziegel, mit oder ohne ein Gerüst aus geflochtenen Zweigen, Flachdach mit Außentreppe, sicherlich nur ein Raum, fensterlos, etwas Tageslicht durch die Türöffnung.

Wenn´s so gewesen wäre: die jungen Flüchtlingsfamilien des syrischen Bürgerkrieges würden gerade jetzt Schlange stehen, um aus dem Schnee und Schlamm der Zeltlager in so ein Quartier umziehen zu können. Wenigstens von unten trocken. Außerdem halten Lehmwände die Wärme fest, wenn man mit getrocknetem Mist, ein paar Zweigen oder brennbarem Müll ein kleines Feuer anzünden kann. Raus aus dem Lager! Die Mitarbeiter der Partnerorganisationen unserer Kirche in Jordanien berichten, dass die meisten Familienväter versuchen, genau dieses Kunststück irgendwie zuwege zu bringen. Irgendein Raum in einem festen Gebäude. Die ewig nassen und eiskalten Zelte bringen ewig nasse Kleidung, nasse Kälte und damit die tödlichen Erkältungskrankheiten der Kinder. In den schlimmsten Nächten der letzten zwei Wochen sind Kinder aber auch ganz einfach erfroren. Was wir ohne weiteres Nachdenken für eine wonnig warme Urlaubsgegend halten, erlebt an Weihnachten 2013 die schlimmste Kältewelle seit Menschengedenken. In den Bergen des Libanon sind die Winter allerdings immer lausig kalt, seit biblischen Zeiten. Zelte sind dann völlig ungeeignete Schlafplätze.

Ein Wort zu den Größenordnungen: das Flüchtlingslager Za Atari nahe der syrisch-jordanischen Grenze – und ein Schwerpunkt des Nothilfe-Engagements unserer Diakonie – hatte vor einiger Zeit schon 150.000 sog. „Einwohner“. Ich weiß nicht, wie viel mehr es heute sind. Aber diese ungeheure Ansammlung von Zelten ist inzwischen die viertgrößte Stadt Jordaniens. Stadt in dem Wortsinn, dass sehr viele Menschen an einem Ort leben und überleben müssen. Ich stelle mir vor, Deutschlands viertgrößte Stadt wäre nicht Köln, sondern ein Millionen-Flüchtlingslager irgendwo in Grenznähe, bei Rosenheim in Bayern, bei Kehl am Rhein oder an der Oder. Unsere Gesellschaft würde komplett durchdrehen. Oder der kleine Libanon: offiziell eingerichtete Flüchtlingslager gibt es dort nicht. Das hat politische Gründe. Aber Syrien-Flüchtlinge, die sich Lager und Notunterkünfte organisieren, hat der Libanon kaum weniger als eine Million. Bezogen auf die einheimische Bevölkerung des Libanon führt das zu diesem realistischen Vergleich: stellt euch vor, wir Deutschen müssten in kurzer Zeit die komplette Bevölkerung der Niederlande bei uns aufnehmen – rund 17 Millionen Menschen, anteilig rund 50.000 davon allein in Magdeburg. Die nackten Zahlen übertreffen sogar die unvergesslichen Flüchtlingsströme am Ende unseres Hitlerkrieges.

Da ist kein Zweifel möglich: an den Weihnachtsfeiertagen 2013 werden nicht wenige junge Flüchtlingsfrauen an unmöglichen Orten, von Ängsten gequält, kleine Mädchen und Jungen zur Welt bringen; viele ohne den Rückhalt ihrer Männer. Denn auch dieser Krieg hat die Familien auf der Flucht zerrissen. Maria, allein in der Eiseskälte! Maria, eine syrische Muslima, Maria, eine syrische Christin, beide trifft es.

Unsere nicht mit Jesus verbundenen Mitbürger, für die Weihnachten lediglich ein deutsches Familienfest ist, mögen sich damit entschuldigen, dass sie sich nicht um jede Not in der Welt kümmern können – und morgen noch hastig ihre letzten Einkäufe erledigen. Uns bleibt dieser Ausweg nicht. Wir feiern zu Weihnachten ja die frohe Botschaft von Gottes Liebe und Zuwendung zu den kleinen Leuten, zu denen, die der erwachsene Jesus die „Mühseligen und Beladenen“ nennen wird. Wir Christinnen und Christen feiern Gottes Zuwendung zu denen, die sich nach nichts mehr sehnen als nach Frieden auf Erden. Weil ohne Frieden auch Geburten keine Quelle der Freude sind, sondern sich verkehren in den Beginn unmenschlicher Ängste. Alles andere – jenseits dieser Frohen Botschaft für die kleinen Leute – ist für uns Christenmenschen weihnachtliche Zutat, mehr oder weniger passend. In diesem Jahr bin ich besonders erleichtert, dass wir zu Hause schon viele Jahre zu Weihnachten mit leichtem Gepäck reisen. Käufliche Geschenke unter uns Erwachsenen haben wir schon lange abgeschafft. Das schafft Freiraum in Kopf und Herz für das, was wirklich wichtig ist, was sich wirklich lohnt. Zum Beispiel mich damit auseinanderzusetzen, dass jene Herbergssuche unserer Krippenspiele in unserer Zeit ihre völlig unromantische brutale Entsprechung hat. In den meisten Jahren weniger schlagzeilenträchtig – in diesem Jahr von schlagzeilenträchtiger Dramatik.

Die frohe Botschaft für die Armen will wörtlich genommen werden. Was sonst? Wollte ich euch alles beschreiben, was im Einzelnen mit Geld aus unseren Quellen in den Lagern rund um die Grenzen Syriens finanziert wird, ihr müsstet euer Mittagessen verschieben. Jede von euch Frauen, die einmal Kinder großgezogen hat, wird sich erinnern, was unbedingt sein muss für die körperliche und seelische Gesundheit; was eine Mutter braucht, damit sie nicht zusammenbricht. Wie schafft man wenigstens in ein paar Ecken Trockenheit, Wärme? Wie soll sie kochen, wie Krankheit produzierenden Dreck bekämpfen? Hinter jeder dieser Fragen stehen Artikel des „täglichen Bedarfs“, die nicht fehlen dürfen. Die unentbehrlichsten müssen verteilt werden. Aber da sind auch Ausgabeposten, an die wir nicht sofort denken. Auch in den überfüllten Kammern jordanischer und libanesischer Städte wird Miete fällig. Wie sollen arbeitslose Männer, die kein Hartz IV kennen, zahlen, wenn ihnen kein Hilfsfond unter die Arme greift?

Die Katastrophenhilfe unserer Diakonie ist ein wichtiger Akteur im Kreis der internationalen Nichtregierungsorganisationen, die sich an der Rettungsarbeit beteiligen. Die Diakonie wiederum wird die Aktion „Brot für die Welt“ um größere Beiträge bitten müssen. Übermorgen, in den Gottesdiensten am Heiligabend, ist die Kollekte überall im evangelischen Deutschland für die Aktion „Brot für die Welt“ bestimmt. Wer diese Gelegenheit nutzen will, tut das am besten mit einem Briefumschlag, auf dem „Brot für die Welt“ (Für Syrien) steht. Dieses Geld ist dann zweckgebunden, denke ich, und der 50/50-Regel entzogen, die viele finanzschwache Gemeinden inzwischen praktizieren: an Heiligabend 50 % für ein wichtiges Vorhaben der eigenen Gemeinde – und nur noch die Hälfte für den Überlebenskampf unserer fernen Nächsten.

Hüten wir uns trotzdem vor Illusionen: der Skandal der „Marien in der Eiseskälte“ lässt sich nicht mit unseren Spenden aus der Welt schaffen. Er wurzelt ja in dem feindseligen Machtstreben von Gewaltherrschern und der Gefolgschaftstreue, die sie finden. Wer müsste das besser aus der eigenen Geschichte lernen können als wir. Aber auch die reine Größenordnung des Elends überfordert die Gemeinschaft der christlichen Hilfswerke. Ohne die politische Völkergemeinschaft, ohne ihre wirtschaftlich bärenstarken Mitglieder kann es nicht gehen. Ernährung, Wasser, Infrastruktur, Rechtssicherheit für eine Millionenbevölkerung von Flüchtlingen, das bleibt politische Pflichtaufgabe. Unseren Volksvertretern und Regierenden auf die Pelle zu rücken ist unbequemer als das Portemonnaie zu zücken, aber mindestens genauso nötig. Gelegenheit dazu werden wir in den nächsten Wochen auch in unserer Gemeinde haben.

Maria 2013, die in der Eiseskälte. Für sie aus der Ferne mit einstehen? Jesus will es, keine Frage. Aber soll ich mir dadurch mein deutsches Familienweihnachten ankratzen lassen? Ich will antworten mit einem abgewandelten weihnachtlichen Prophetenwort: „Ein Kind ist uns geboren. Ein Sohn ist uns gegeben. – Oder auch eine Tochter. – Und die Hoffnung ruht auf ihren kleinen Schultern.“

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