Reminiscere, 20. März 2011
Es kamen aber zu der Zeit einige, die berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. Oder meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen.
(Lukas 13, 4-5)
Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.
(1. Mose 11,1-9)
Niemand kennt heute morgen das Ende des Schreckens! Ist es am Ende „nur“ eine zubetonierte Ruine, die unsere fernen Nächsten in Japan für alle kommenden Zeiten nicht aus dem Auge lassen dürfen – und darum herum ein Landkreis, viel größer als unsere Magdeburger Börde, in dem sich der Wiederaufbau nach der Naturkatastrophe ohnegleichen kaum lohnt?
Oder steht das eigentliche Entsetzen noch bevor? Im größten städtischen Ballungsraum auf Erden, aus dem es für die große Mehrheit seiner Bewohner kein Entfliehen geben kann? Wir können es nicht wissen heute morgen – und unsere fernen Nächsten wissen es auch nicht.
Neuntausend Kilometer sind vielleicht ein gewisser Sicherheitsabstand für Leib und Leben – ein Sicherheitsabstand für unsere Seelen sind sie nicht. Wir müssten uns schon verkriechen, den Fernseher zum Sperrmüll geben; einen Bogen um jede Zeitung machen; so tun, als ginge das noch: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“
Muss ich lange begründen, warum das nicht klappen wird? Auch wir Alten sind ja längst Teil der vernetzten Welt; vernetzt, globalisiert in Ursachen und Wirkungen; globalisiert im Wettlauf, in der Konkurrenz um Güter und Vorteile der modernen Industrie- und Konsumgesellschaften. Wir selbst haben diesen Prozess in Gang gesetzt, als wir jünger waren.
Und mit ihren furchtbaren Irrwegen – genau wie mit ihren Höhenflügen der letzten Jahrzehnte sind Deutsche und Japaner für den Rest der Welt so etwas wie zweieiige Zwillinge.
Nein, kein Sicherheitsabstand für unsere Seelen! Obwohl unsere Enkel scheinbar sicher leben. Aber was ist der Sinn? Gibt es ernst zu Nehmendes, ernster zu nehmen als „Pech gehabt“ und „Hinterher ist man klüger“ oder gar „Bei uns wäre das nicht passiert“?
Für uns führt bei dieser Frage kein Weg an Jesus von Nazareth vorbei. So wahr er wirklicher Mensch gewesen ist, können wir ihn nicht nach den tödlichen Risiken der Atomtechnologie fragen. Fragen können wir ihn, fragen müssen wir ihn nach den gottgewollten Grundlagen unseres Zusammenlebens. Und da bekommen wir Antworten noch und noch. Wir brauchen sie mit Hilfe des Geistes nur anzuwenden auf die Gewissensfragen unserer Zeit – auch auf diese, die uns so grauenvoll bewusst geworden ist. Halten wir uns heute morgen an zwei Antworten: Den Kindern gehört das Reich Gottes! Wer sich an den Kindern vergeht – sehendes Auges – der lädt Schuld auf sich, die bei Gott schwerer wiegt als das meiste, was wir sonst zu verantworten haben. Da ist Jesus überhaupt nicht misszuverstehen!
Was würde Jesus also sagen zu einem Traum aus Technik und Mammon, der Kinder und Kindeskinder um Lebensrecht und Lebensglück bringen kann – ohne dass sie sich hätten entscheiden können?
Und die zweite Antwort: Jesus wird gefragt nach seiner Meinung zu einer Horrormeldung seiner Zeit. Was ist mit den Opfern einer kürzlichen Metzelei der Sicherheitsorgane des Königs Herodes? Hat es da Schuldige getroffen? Oder? Jesus erinnert in seiner Antwort auch an einen schrecklichen Unfall jener Tage: „Meint ihr, die Achtzehn, auf die der Turm von Siloah stürzte und sie erschlug, seien schuldiger gewesen als anderen Menschen, die in Jerusalem wohnen?“ „Ich sage euch: Nein! Sondern wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr genauso umkommen.“
Ein baufälliger Turm erschlägt achtzehn Menschen! Das wäre auch heute eine BILD-Schlagzeile, auch wenn uns sonst keine Nachrichten von diesem Unglück überliefert sind. Die Opfer? Zur falschen Zeit am falschen Ort, pflegen wir zu sagen. Aber, nicht wahr, sie haben sich mit keiner Obrigkeit rechtswidrig angelegt. Die, die Jesus bedrängen, sind wohl selbst manches Mal an dem Unglücksturm vorbeigekommen.
Aber Jesus macht gar keinen großen Unterschied: Opfer der Waffengewalt – so wie heute Unbewaffnete in Libyen – oder Opfer eines grässlichen Unfalls. Jesu Antwort bleibt gleich: suche keine Schuld, keine rechtfertigende Erklärung bei den Opfern – sondern frage nach deinem Weg, nach deiner Umkehr von Irrwegen, die Richtung Untergang führen.
Das ist keine Abkehr von den Opfern, erst recht nicht von lebenden und leidenden Opfern wie in den japanischen Notstandsgebieten. Das ist Hinwendung zur Verantwortung, getragen vom Glauben, im Vertrauen auf Gott, der uns nicht fallen lässt, solange wir ihn suchen.
Was, um alles in der Welt, werden die Christinnen und Christen der bewährten japanischen Minderheitskirchen in diesen Tagen von uns erwarten? Außer den materiellen Hilfeleistungen, die die Katastrophenhilfe der Diakonie auf den Weg bringt? Dass wir in der Entschlossenheit des Glaubens der Umkehr zum Leben den Weg ebnen, überall, wo er noch möglich ist. Genau das, was Jesus nötig findet.
Nicht: hättet ihr doch, ihr Japaner! Hättet ihr doch keine Atomkraftwerke genau auf die dicksten Risse der Erdkruste gebaut! Besserwissereien, denen Christinnen und Christen hierzulande nicht auf den Leim gehen dürfen – solange sich für jedes unserer Atomkraftwerke überaus lebenswirkliche Katastrophendrehbücher schreiben lassen.
Nicht Besserwisserei, Umkehr! So lautet Jesu Richtlinie. Wer bildlich oder tatsächlich um der Kinder und ihrer Mitgeschöpfe willen den Kollaps unserer AKW-Türme verhindern will, kehre um. Und, ganz ernst gemeint, niemand ist zu alt oder zu einflusslos, um diesen Weg mit zu ebnen.
Gerade bei uns nicht! Mindestens so fein wie die Seismographen der Erdbebenwarten halten die politisch und wirtschaftlich Mächtigen ihre Fühler in unsere Gesellschaft. Sie versuchen herauszufinden, worauf wir unsere Sicherheiten und Hoffnungen gründen, welche Lasten wir bereit sind zu tragen und welche nicht. Was wir an Wahlurnen oder Ladenkassen belohnen oder verweigern. Kein Zweifel: das größte Teilstück der Umkehr zum Leben ist in unserer, der Bürgerinnen und Bürger Hand und Verantwortung.
Ich entscheide über meinen bzw. meiner Gemeinde Stromlieferanten, über meine Urlaubs-Flugreise, den Umgang mit meinem Auto – wenn ich denn eines haben muss oder will – über tausendundeine Kaufentscheidung, über das, was ich, kindgemäß natürlich, meinen Enkeln sage und vorlebe über „Sein oder Haben“ und, und, und… All das schlägt sich – mal 100.000 oder mal 10 Mio. genommen – mit absoluter Sicherheit nieder in den Analysen und Strategiepapieren derer, die auf unsere Zustimmung oder Geld angewiesen sind. Das ist nicht überall auf Erden so eindeutig!
Abkehr von tödlichen Irrwegen beginnt nicht „da oben“, sondern eindeutig „hier unten“ hinter meiner und deiner Wohnungstür. Dass Gottes Wille geschehe „auch auf Erden“, ist ein Ding des Glaubens und zugleich der Bürgerverantwortung. Eben „Ora et labora“, bete und arbeite!
„Ora et labora“, für mich ist ein handfestes Gegenbild zu einer anderen Turmgeschichte, die Bibellesern in diesen Tagen unvermeidlich in den Sinn kommt. Ganz ohne „Ora“, ohne Gebet, erfolgte da die Grundsteinlegung zu einem Menschheitsprojekt, genannt der Turm zu Babel. Eine gemeinsame Sprache der Macht vereint sie alle, damit sie sich einen Namen machen, die Großen und die Kleinen in ihrem Gefolge. Dazu passen wie die Faust aufs Auge die alten Schwarz-Weiß-Filme aus der jungen Bundesrepublik, in denen der damalige Atomminister eine wunderbare neue Welt ankündigt, in der Obhut der AKW-Türme. Unausgesprochen treten sie an Stelle der Kirchtürme. Nebenbei: in der DDR musste systembedingt niemand für AKWs werben. Hier genügte die Entscheidung der Obrigkeit. „Auf dass wir uns einen Namen machen!“ Hier wie dort!
Über dem Turm zu Babel bzw. seinem eigentlichen Zweck hat sich die Menschheit entzweit. Die Sprachverwirrung, die Gott heraufführt, ist natürlich viel mehr als eine Erklärung für die Notwendigkeit und Mühe von Fremdsprachen-Unterricht. Die Sprachen der Armen und der Sicheren, der Ausgebeuteten und der Nutznießer, der Erwachsenen und der Kinder, der Glaubenden und der Religionslosen – sie können zu unüberwindlichen Barrieren werden. Die Gräben zwischen ihnen sind ungleich gefährlicher als die Probleme beim Japanisch-Lernen.
Darum endet unsere Bibel mit einem Gegenbild der Hoffnung zu den furchtbaren Türmen alter und neuer Zeit. „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!“ In menschlicher Bildersprache das Ziel der wieder hergestellten Lebensgemeinschaft des Anfangs, das Gott im Herzen trägt, das er nicht aufgeben wird – solange er Menschen findet, die seinem Ruf folgen – und umkehren.