Der stattliche Schaukasten in der Fußgängerzone, samt Zeitschaltuhr für die abendliche Beleuchtung, war nicht billig. Ein dicker Batzen vom Erlös des letzten Gemeindefestes ist in diese Investition geflossen. Aber die Evangelische Kirchengemeinde möchte Flagge zeigen, dort wo die Bürgerinnen und Bürger einkaufen und abends ins Kino gehen.
Dann, im Januar 2013 der Anschlag! Wie ein Lauffeuer spricht sich die Sache in der Kleinstadt herum. Das Lokalradio rückt mit seinem Mikro im Pfarrhaus an. „Was sagen Sie zu dem Vorwurf““ will die Reporterin wissen. Für die Hörerschaft wiederholt sie noch einmal, was passiert ist.. Vorgestern morgen war der Kirchen-Schaukasten in gelber Farbe voll gesprüht „Scheiß Kirche! Keine Hilfe für vergewaltigte Frauen!“ war da zu lesen. Auch hier vor Ort empören sich also Menschen über das, was kürzlich in zwei katholischen Krankenhäusern passiert ist. Eine vergewaltigte Frau, die Nothilfe suchte, wurde beide male abgewiesen. Die Mediziner fürchteten wohl, durch die Bitte um die „Pille danach“ in Schwierigkeiten zu geraten. Sie müssen das strikte Nein ihres kirchlichen Arbeitgebers zu jeder Form von Abtreibung beachten. Ihre Furcht vor militanten Abtreibungsgegnerinnen, die in die Rolle angeblicher Vergewaltigungsopfer schlüpfen, ist bekannt. Das arbeitsrechtliche Damoklesschwert einer Denunziation schwebt über ihnen.
Alles in allem ein verheerender Vorfall, menschlich und für das Ansehen der Kirche. Was also, will die Reporterin im Pfarrhaus wissen, hat die Kirchengemeinde zu ihrer Rechtfertigung zu sagen?
Das Gespräch dauert länger, als die Beteiligten geplant hatten. Die Reporterin erfährt, dass und warum der Vorfall im nahen Evangelischen Krankenhaus kaum vorstellbar wäre. Der Nothilfe für verzweifelte Frauen steht dort kein starres Dogma als Hindernis im Wege. So gesehen ist die Angabe des konkreten kirchlichen Trägers über dem Portal eines Krankenhauses keine Nebensächlichkeit. Kirche und Kirche, versteht die Reporterin, bedeutet nicht immer dasselbe, wenn das Leben konkret wird.
Aber auch die Leute im Pfarrhaus kommen ins Grübeln. Macht es wirklich Sinn, dem Lokalradio die Empörung über die beleidigende Schmiererei ins Mikrofon zu sprechen? Nach dem Motto „Haltet euch gefälligst an die tatsächlich Verantwortlichen. Im Evangelischen Krankenhaus wäre das nicht passiert“?
Nicht nur für die Reporterin, erst recht für die Bevölkerungsmehrheit ohne persönliche christliche Glaubenserfahrung bilden die Kirchen nun mal eine Haftungs- und Verantwortungsgemeinschaft. Und die nächste offensichtliche Glaubwürdigkeitskrise, an der auch die evangelische Gemeinde ihren gerüttelten Anteil hat, steht immer schon vor der Tür.
So konnten sie der Reporterin nur dankbar sein für ein paar aufklärende Erläuterungen. Aber die Anzeige gegen Unbekannt ist unterblieben. Stattdessen wollen sie eine Box unter den reparierten Schaukasten hängen; Aufschrift: „Was ich mir von der Kirche am Ort wünsche – Bitte einwerfen“.