Reformations-Gedenktag, 31. Oktober 2004
Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohepriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.
(Markus 2, 23-28)
Ganz Europa schüttelt die Köpfe, wenn die Bilder alle Jahre wieder über die Bildschirme flimmern. Ältere Männer, häufig wohlbeleibt, dekoriert mit breiten orangefarbenen Schärpen, marschieren kolonnenweise mit finsteren Gesichtern durch bestimmte Stadtviertel nordirischer Städte. Die Menschen am Straßenrand sind gar nicht amüsiert. Britische Polizei und Armee haben Großeinsatz. Denn die protestantischen Oranierorden marschieren wieder einmal demonstrativ durch katholische Stadtviertel, um einen Schlachtensieg zu feiern. Da hat ein protestantischer Fürst vor Jahrhunderten einen katholischen aufs Haupt geschlagen; und heute noch nutzen bornierte Gläubige dieses Datum, um ihren Mitbürgern zu drohen über die Grenzen christlicher Kirchen hinweg. Okay, wir Evangelischen in Deutschland sehen die Sache mit unseren katholischen Nachbarinnen und Nachbarn nicht mehr so eng. Aber so lange ist es noch nicht her, dass katholische Jungs und evangelische Mädchen auf keinen Fall mit dem Segen ihrer Eltern rechnen konnten. Heute haben wir längst begriffen, wo die eigentliche Grenzlinie verläuft: nicht zwischen unseren Kirchen, sondern zwischen denen, die sich an Jesus halten und denen, für die er Luft ist – oder gar eine Gestalt aus einer Welt, die sie bewusst hinter sich gelassen haben, die sie mit Verachtung strafen.
Hand aufs Herz, wenn wir jetzt sofort einem Nachbarn, einer Kollegin erklären sollten, was heute noch typisch evangelisch ist und auch bleiben soll, dann gerieten viele von uns ins Stottern. „Allein aus Gnade, allein durch den Glauben“ die Grundlage der Beziehung Mensch und Gott? Luthers zentrale theologische Entdeckung vor knapp 500 Jahren? Das bringen viele hoch angesehene katholische Theologen und Amtsträger heute selber ohne Stottern über die Lippen – und katholische Christenmenschen sowieso. Der Machtanspruch des Papstamtes? Auch viele Katholiken haben ein kritisches Verhältnis dazu und gehen im Gewissenskonflikt ihren eigenen Weg, z.B. wenn es um die Teilnahme an unseren Abendmahlsfeiern geht oder um Entscheidungen in der Sexualethik. Das Zölibatsgesetz für die Priesterschaft? Die katholische Kirche hat ein Riesenproblem damit. Die Personalchefs evangelischer Landeskirchen kennen ein anderes Problem: die Scheidungsrate evangelischer Pastorenfamilien. Sie ist aus nachvollziehbaren Gründen eher höher als im Durchschnitt der Bevölkerung, nicht etwa niedriger. Bleibt die Stammtischmeinung: evangelisch ist weniger streng als katholisch. Und dies Urteil sollte uns eher peinlich sein.
Wir haben also reichlich Anlass, uns zu fragen, ob uns etwas von der Reformation des 16. Jahrhunderts heute noch harte Münze ist. Deshalb die Jesusgeschichte vom Anfang. Ältere Christenmenschen kennen das Motiv von großen Farbdrucken, die früher im Goldrahmen über manchen Ehebetten hingen: Jesus, blond in wallendem Gewand im Kornfeld, zusammen mit den Jüngern, die nach den reifen Ähren langen. Eine eher belanglose Alltagsszene, wenn nicht Sabbat wäre mit seinen strikten Ruhegeboten. Essen zubereiten und pflücken gehört dazu und ist untersagt. Ein paar Handgriffe werden zur Gotteslästerung, aus der Sicht derer, die sich als Sachwalter Gottes verstehen. Jesus antwortet auf den Vorwurf der Religionswächter zunächst mit einem Hinweis auf die Zwänge des wirklichen Lebens und dann mit einer umstürzenden Schlussfolgerung. Das gab es durchaus schon, dass fromme Menschen gezwungen waren, die Speisegebote des Sabbats zu übertreten. Jesus zitiert einen berühmten Fall aus der Geschichte des Königs David, als er noch nicht König war, sondern ein verfolgter Aufständischer. Er requirierte sogar die exklusive Priesterspeise, die gottgeweihten Brote aus dem Heiligtum. Und die Erinnerung daran ging ein in die Geschichte Israels. Und deshalb die umstürzende Schlussfolgerung: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“
Umstürzend? Wer in die vielen menschenfreundlichen Sabbatregeln des Alten Testamentes schaut, der erkennt dort, wie gut Gott es meint mit den hart arbeitenden Menschen und sogar mit ihren Last- und Zugtieren. Sie sollen ausruhen können und sogar ein verbrieftes Recht darauf haben. Aber aus dem Recht ist eine Last geworden, zusammengesetzt aus Hunderten von haarspalterischen Einzelgesetzen. Deren absichtliche oder gar versehentliche Verletzung löst angeblich den Zorn Gottes aus. Jesus weist den Weg zurück zum Urgrund der Sabbatruhe. Es ist Gottes liebevolle Fürsorge für alle, die es schwer haben im Lebenskampf. Deshalb ist der Sabbat für den Menschen gemacht und nicht umgekehrt.
Nun ist die Sorge um die längst angeknabberte Sonntagsruhe vielleicht nicht unsere erste Sorge, wenn wir an die Zukunft unserer Kinder denken. Aber wir sind schon auf einer ganz wichtigen Fährte. Die Überzeugung, dass Gehorsam gegenüber Gottes Gesetzen Wohl und Wehe der Menschen bestimmt, ist heute gewiss nicht mehrheitsfähig. Aber niemand denke, dass dadurch in unserer Welt so etwas wie ein Machtvakuum entstanden ist. Ersetze Gottes Gesetz durch die Gesetze der globalisierten Wirtschaft – und wir sind im Jahr 2004 angekommen. Keine unternehmerische Entscheidung, keine wirtschaftspolitische Weichenstellung, bei der uns zum Trost nicht gesagt würde, es sei alles rechtens, es ginge nicht anders, und sich dagegen zu stellen, sei sinnlos oder gar verantwortungslos. Nicht nur der biblische Glaube, alle Religionen, alle Politik und Wissenschaft, die ganze Zukunft des Menschen werden einem Gesetz ohne Gewissen unterworfen. Und dieses Gesetz ist nicht weniger diktatorisch als jedes Religionsgesetz, das den Lebensraum der Liebe verlassen hat. Du musst nicht den Namen Gottes im Munde führen, um den Menschen ein Joch aufzuerlegen, das alle Gottesgebote an Unerbittlichkeit in den Schatten stellt.
Wahrhaft unerbittlich, denn wir wissen alle längst, dass der Gott der Globalisierung viele seiner Kinder frisst, viel mehr als der Götze Moloch, der der Abscheu Israels war. Dieser Götze frisst an den Seelen der Menschen bei uns, die um ihre Arbeitsplätze fürchten, an den Seelen der jungen Leute, wenn sie merken, dass sie eigentlich überflüssig sind. Er frisst an unseren Nachbarschaftsbeziehungen in der Nähe und weltweit, denn er stößt uns alle in eine unmenschliche Konkurrenz, die am Ende nicht anders kann, als Feindbilder zur Welt zu bringen. Wir beginnen erst zu ahnen, unter welche Knute uns dieser Götze anonymer wirtschaftlicher Macht mit Anspruch auf die Weltherrschaft noch zwingen kann. Auf absehbare Zeit wird es die Menschen bei uns noch nicht das nackte Leben kosten. Andere Menschen unserer Tage sind längst in dieser Situation. Ein einziges Beispiel für ungezählte, die ich erzählen könnte: Jedes Kind in Indien kennt die Berichte über die massenhaften Selbstmorde verzweifelter Kleinbauern, denen der globalisierte Agrarmarkt mit seinen Patenten, mit unbezahlbar gewordenem Saatgut und Agrarchemie jede Hoffnung geraubt hat. Millionen Opfer zeugen bereits gegen diesen Götzen Moloch unserer Tage. Und doch sollen wir uns täglich unter ihn beugen und ihm opfern, wonach er allein verlangt: Gewinn an den Börsen und auf den Konten.
So wahr Jesus lebt, so wahr sein Wort unser Denken und Handeln heute leitet, die Schlussfolgerung ist zwingend: dem Moloch Mammon gilt es entgegenzurufen, nicht der Mensch ist für die Wirtschaft gemacht, sondern die Wirtschaft für den Menschen. Wenn die Wirklichkeit diesem Kernsatz Hohn spricht, wissen Christenmenschen, dass hier etwas in eine sehr falsche Richtung läuft. Zumal man noch nicht einmal Wirtschaftswissenschaften studiert haben muss, um zu wissen, dass Alternativen möglich sind.
Evangelisch, reformatorisch war und ist es, den Gott zu entdecken, wieder zu entdecken, der sich auf die Seite des geängstigten, geschundenen Menschen stellt; der ihm Lasten abnimmt, statt ihm immer noch welche drauf zu packen. Evangelisch, reformatorisch war und ist es, die Götzen zu nennen, innerhalb und außerhalb der Kirchen. Was in der Bilanz nicht für den Menschen ist und für Gottes Schöpfung (für alle Menschen wohlgemerkt, nicht nur für uns), was Seele und Körper vieler Menschen zum Vorteil Weniger versklavt, das hat sein Urteil schon empfangen. Das gilt für alle Bereiche des Lebens und für alle großen Glücksversprechen, die uns heute umschwirren.
Hier, erst hier und nur hier richtet Jesus von Nazareth einen Wahrheitsanspruch auf: „So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.“ Dieser Anspruch hat ihm keine Krone, keine Präsidentschaft eingetragen, sondern das Kreuz. Aber Gott hat seinem Urteil Gültigkeit beigelegt, bis heute. Der Verkünder der Liebe Gottes, seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ist Herr nicht nur über einen menschenfeindlich gewordenen Sabbat. Er ist Herr über alles, das Heil verspricht und Unheil bringt. Wer dieser Stimme folgt, ist ein freier Christenmensch im Zeitalter der Globalisierung; frei, mit anderen zusammen die Wege zu suchen, die wirklich den Menschen dienen. Ich halte das für evangelisch und reformatorisch. Auch wenn wir Evangelischen diese Wahrheit Gott sei Dank nicht gepachtet haben. Sagen wir es deshalb einfacher: Ich halte das für christlich.