Bei Gott zählen wir

Heiligabend, 24. Dezember 2003


Kurzpredigt – Textbezug Lukas 2,1ff

Zählen wir überhaupt noch, Weihnachten 2003? Menschen in Ostdeutschland, Tag für Tag beschrieben als die armen Verwandten der Nation? Und viele von uns fühlen sich auch so. Zählen wir überhaupt noch? Wir einfachen Leute. Vielfach betroffen von den Entschei­dungen der Großen in Politik und Wirtschaft – die uns immer sagen, es ginge nicht anders. Zählen wir überhaupt noch? Der ganz kleine Kreis der Christinnen und Christen in Sachsen-Anhalt. Vielleicht nicht heute – aber über das Jahr gesehen.

Zählen wir überhaupt noch? Die Hirten im alten Israel hatten allen Grund, sich das zu fragen. Sie machen eine harte und gefährliche Arbeit. Die Herdenbesitzer in ihren Gutshäusern sind auf sie angewiesen. Gleichzeitig werden alle Vorurteile auf die Hirten abgeladen. Sie gelten als unverbesserliche Betrüger. Kein Hirte ist deshalb vor Gericht als Zeuge zugelassen. Ein theologisches Gutachten aus jener Zeit stellt fest (Zitat): „ Es gibt keine verächtlichere Beschäftigung in der Welt als die des Hirten.“

Bei Gott zählen sie. Mehr als ihre Verächter. Dieser Regelbruch durchzieht das ganze Leben Jesu: Hirten statt Hohepriester; Krippe statt Prinzengeburt; Esel statt Staats­ross; Heimatlosigkeit statt Residenz; Kreuz statt Staatsbegräbnis. Dieses ständige Auf-den-Kopf-Stellen aller Regeln von Ansehen und Macht kann kein Zufall sein. Es ist kein Zufall!

Gott weiß, wo es ihn hinzieht in unserer Welt, auf dem schnellsten Wege. Zu denen, die schwer an den Lasten des Lebens tragen. Die in der Gefahr sind, darunter zusammenzubrechen. „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“, lädt der erwachsene Jesus ein. Die Hirten der Weihnachtsnacht sind die ersten, die dieser Einladung folgen.

Kein Prediger, keine missionierende Kirche spricht die Hirten an. Einfach Gott selber. Diesen direkten Weg zu unseren Herzen hält sich Gott offen, bis heute. In Wirklich­keit sind das tausend Wege, Momente, Situationen, in denen Gott direkt zu uns zu sprechen vermag. Durch Bilder, die wir sehen, durch Geschichten, die wir hören, durch Träume, die wir haben. Und die erschreckende und zugleich glücklich machende Botschaft ist genau diese: es gibt das andere Leben, jenseits von Hoffnungslosigkeit, Minderwertig­keitsgefühlen, Glaubenslosigkeit. Siehe, ich verkündige dir große Freude, dir und zugleich all deinen Mitmenschen. Denn Gottes Liebeserklärung schließt niemanden aus.

Diese Liebeserklärung Gottes hat einen Namen und ein Gesicht, so wie auch die Menschen, die wir lieben: Jesus, der Sohn der Maria und des Josef. Seinen Namen, seine Worte sind wir den Menschen unserer Zeit schuldig – ohne dass wir deshalb die Menschen anderen Glaubens und anderer Weltanschauungen gering schätzen dürften.

Im Bunde mit ihm, mit Jesus, in seiner Nachfolge, fallen auch die ganz großen Fragen der Welt in unsere Zuständigkeit: der Friede auf Erden, ohne den alles andere Nichts ist. Die Weihnachtsbotschaft ernennt uns alle zu Botschafterinnen und Botschaftern des Friedens, der im Herzen wurzelt – und schließlich der Menschheit und der Schöpfung zugute kommt.

Die Hirten sind die ersten, die die beiden Dinge zusammen bringen, auf die es in unserem Glauben ankommt. Die Erfahrung der Gegenwart des guten Gottes in unserer Welt. Und Entdeckung der Armut als Heimat, als Ursprungsort der Kirche – den Ort, wohin immer bereit sein muss, zurückzukehren. Wenn immer diese zwei Seiten der Medaille auseinanderbrechen, scheitert die Kirche und verkümmert der Glaube. Aber jeder Heilige Abend ist ein wunderbarer Anlass, die Quelle des Glaubens von neuem zu suchen und zu finden.