Apostolisches Glaubensbekenntnis (6)
23. 03.2014
„Hinabgestiegen in das Reich des Todes“
Kaum ein anderer der kurzen Sätze, aus denen sich unser Apostolisches Glaubensbekenntnis zusammensetzt, wird den meisten unter uns so fremd sein, wie dieser: „hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Eine Behauptung über Jesus Christus, eingeschoben zwischen die Sätze über seinen Kreuzestod und seine Auferstehung am dritten Tag danach. Aber wer die Schlusskapitel der vier Evangelien liest, egal welches, wird von diesem Ereignis kein Wort finden. Auch sonst gibt es im ganzen Neuen Testament keinen erzählenden Text, der so einen Vorgang in unserer Vorstellungswelt verankern könnte.
Der Satz soll nach dem Urteil der Kirchenhistoriker dann auch recht spät, vielleicht um das Jahr 350 Teil dieser Quintessenz unseres Glaubens geworden sein, die wir das „Apostolische Glaubensbekenntnis“ nennen. Aber spät heißt ja nicht automatisch nebensächlich, abwegig, überflüssig.
Dieser Tage ist es z.B. gerade einmal 80 Jahre her, dass mutige Christenmenschen im Mai 1934 in der Kirche von Barmen-Gemarke, einem Stadtteil von Wuppertal, als Bekenntnissynode die „Barmer Theologische Erklärung“ beraten und beschlossen haben. Sechs Thesen, die heute kurz hinter dem Apostolischen Glaubensbekenntnis in unserem Gesangbuch abgedruckt sind (EG 810). Sechs Thesen gegen die Hitler-Kirche. Jede endet mit dem damals tollkühnen Satz: „Wir verwerfen die falsche Lehre…“ Und was dann folgt, war jedes Mal ein unmissverständliches Nein gegen die widergöttlichen Ansprüche des Nazistaates. Die Thesen gelten heute als neuzeitliches Glaubensbekenntnis unserer Kirche – formuliert bald 2000 Jahre nach Golgatha und dem Ostermorgen.
Zu einem inoffiziellen kleinen Glaubensbekenntnis ist inzwischen sogar ein Satz geworden, der gerade einmal 30 Jahre alt ist. 1983 tagte im kanadischen Vancouver die Weltkirchenkonferenz. Sie wurde unvergesslich durch den Aufruf an die Christenheit, einzustehen für „Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung.“ Eine Formel, die bis in die Reihenfolge der Begriffe hinein auf den Punkt brachte, wozu Jesus seine Kirche im 21. Jahrhundert ruft. Wir merken: ob ein Bekenntnis Wurzeln schlägt in unseren Gemeinden, das liegt nicht an seinem Alter, sondern daran, ob es in einer bestimmten Zeit das Evangelium auf den Punkt bringt.
Was also brachte dieser Halbsatz einmal auf den Punkt: „hinabgestiegen in das Reich des Todes“? Was hat er uns immer noch zu sagen? Denn sonst müssten wir ihn ja wohl weglassen. Zunächst einmal müssen die Alten unter uns aufräumen in ihren Erinnerungen. Hieß es nicht, als wir jung waren, auf deutsch noch „Niedergefahren zur Hölle“? Ja, so war es. Und so war es wohl auch sinnentstellend. Denn unser deutscher Sprachgebrauch meint mit Hölle ja den Ort des endgültigen Verlorenseins, aus dem es in Zeit und Ewigkeit kein Entkommen gäbe. Jene Hölle, die unsere Vorfahren im christlichen Mittelalter mit nie verschwindender Angst erfüllte. Bis zur Wiederentdeckung der Gnade Gottes war diese Angst zugleich ein wichtiges Herrschaftsinstrument der Kirche.
Die Seele Jesu zwischen Karfreitag und Ostern in der Hölle? Nein, das ist definitiv nicht gemeint. Israels Glaubende rechneten statt dessen mit einem Totenreich im Inneren der Erde. Seine Merkmale waren nicht Feuer und Folter, sondern die Trennung von Gott und der Gemeinschaft der Glaubenden. Typisch dafür ist dieser Satz aus dem 6. Psalm: „Im Tode denkt man nicht an dich. Wer wird dir bei den Toten danken?“ Trotz aller Liebe zu den Müttern und Vätern des Volkes liegt in Israels Vorstellungswelt über diesem Totenreich ein Grauschleier, der sich nicht fortwischen lässt. Dort sind sie alle, die deren Namen noch lebendig sind und auch die Vergessenen.
Und von dieser Wirklichkeit fern unserer Erfahrung heißt es im 1. Petrusbrief (4,6): „Denn auch den Toten ist das Evangelium verkündet worden, …damit sie nach Gottes Weise im Geist das Leben haben.“ Der Zusammenhang lässt keinen Zweifel: der da den Toten im Geist Gottes das Leben verkündet, ist niemand anderer als Jesus Christus. Trotzdem: eine bescheidene biblische Textgrundlage – auch wenn man eine zweite Stelle aus diesem 1. Petrusbrief dazu nimmt. Da ist im 3. Kapitel von den „Geistern im Gefängnis“ die Rede, zu denen Christus gegangen sei. Man muss seine Bibel schon ziemlich gut kennen, um sich an die Vorgeschichte der Sintflut zu erinnern: da wird der Zorn Gottes auch dadurch erregt, dass sich Mädchen mit sogenannten Göttersöhnen, Wesen aus der Umgebung Gottes, einlassen. Aus dieser Verbindung gehen sagenhafte Riesen hervor; für die alten Völker eine geläufige, in Israel freilich skandalöse Vorstellung. Diese Göttersöhne werden deshalb in einem besonderen Gefängnis im Erdinnern gefangen gehalten. Und von Christus heißt es nun (1. Petr. 3,19): „So ist er auch zu den Geistern gegangen, die im Gefängnis waren, und hat ihnen gepredigt.“
Sehr viel näher ist euch unser Satz aus dem Glaubensbekenntnis mit diesen Erläuterungen womöglich nicht gerückt. Dies Drei-Etagen-Weltbild: oben Gottes Himmel, in der Mitte die lebende Schöpfung, unten das unzugängliche Totenreich, es ist nicht unseres. Wir suchen Himmel und Hölle eher in uns und zwischen uns. Wir müssen die biblische Liebeserklärung Gottes an seine Schöpfung auf dem Planeten Terra heute in Beziehung setzen zu den Lebensgesetzen der Evolution und der Unbegreiflichkeit des Kosmos. Und was es bedeutet, tot zu sein, wissen wir bei alledem auch nicht sicherer, als unsere Glaubenseltern mit ihren antiken Weltbild.
Aber ehe ich hinter diesen Halbsatz vom Totenreich nun einen „k.w.-Vermerk“ setze: „kann wegfallen“ bei der nächsten Revision, will ich ich mich erinnern an den CVJM in Petershagen an der Weser. Da drang der sehr missionarisch gesonnene Sekretär in uns Fünfzehnjährige ein. Er versuchte uns klar zu machen, dass die Sache mit Jesus eine sehr persönliche und sehr folgenreiche sei. Sich dem Ruf Jesu zu verweigern könne bedeuten, dass man am Tag des Gerichtes auf die falsche Seite geschickt würde. „Da ist Heulen und Zähneklappen,“ höre ich ihn heute noch sagen.
Im Schlafsaal unseres Heims habe ich später über seine Drohungen nachgedacht. Geht Gott mit uns kleinen Menschen wirklich so um, wie der römische Kaiser in der Arena mit den Gladiatoren, die den Kampf verloren haben? Ihr merkt, was damals meine Lektüre war! Und was ist mit den ungezählten Menschen, die nie die Wahl hatten? Weil sie in grauer Vorzeit gelebt haben oder außerhalb der Reichweite christlicher Mission? Ziemlich banale Gedanken eines „verhaltensauffälligen Jugendlichen“ Anno 1954. Aber ich wollte mich einfach nicht durch eine Drohung religiös vereinnahmen lassen. Das kannte ich, bezogen auf väterliche Allmacht, schon aus meinem Elternhaus.
Für Menschen in dieser seelischen Klemme wirkt der Satz vom Abstieg des rettenden Christus in das Reich des Todes wie bestellt. Natürlich ohne das mythische Weltbild drum herum. Aber die Botschaft ist lupenrein, unmissverständlich: Gottes Liebe gilt ungeteilt seinem ganzen Menschengeschlecht, wo immer sie leben oder gelebt haben; was immer in ihrem Leben unumkehrbar misslungen ist. Gottes Liebe streckt sich aus in Gegenwart und Zukunft, aber eben auch in die Vergangenheit. Selbst die geschlossenen Lebensakten der Toten werden in liebevoller, in rettender Absicht noch einmal geöffnet. Nicht wie in diesen Cold-Case-Krimis, wo Kommissare und Forensiker entkommene Mörder noch nach 35 Jahren überführen und hinter Gitter bringen. Die Rache der bösen Tat kommt spät, aber sie kommt!
Unser Gott liebt den umgekehrten Weg. Darum gibt es keinen Stichtag für Barmherzigkeit und Vergebung. Unsere Vorfahren wählten dafür das damals naheliegende Bild von der Predigt im Totenreich – vom Verkündigungsauftrag Christi, der auch die ganze verflossene Geschichte mit umfasst. Damit das Licht der Hoffnung auf den gnädigen Gott auch das düstere unzugängliche Reich des Todes hell macht.
Bleibt Gott, der Richter, bei dieser Sicht der Dinge nicht auf der Strecke? Die Alten in der Kirche haben leidenschaftlich darüber gestritten. Aber schließlich haben sie sich und uns ins Bekenntnis geschrieben, dass Gott wirklich jeden Weg geht, um seine Gnade unter das Volk zu bringen.