Empfindungen, ausgelöst durch eine seltsame Ostergeschichte
(Johannes 21, 1-14)
Im Rückblick will es mir scheinen, dass jeder Lebensabschnitt und auch jedes besondere Stück Zeitgeschichte seine speziellen Ostergeschichten hat. In jungen Jahren habe ich besonders die österlichen Mutmacher-Geschichten auf mich bezogen. Ich habe mit den Jesus-Luten gefühlt, die nach seiner Hinrichtung voller Angst unterzutauchen versuchten. Erst als sich der Auferstandene in Person Zugang zum Untergrund verschafft und diesen völlig neuen Geist mitbringt, wagen sie sich wieder hervor.
Es gab Zeiten, da hat es mich sehr beschäftigt, dass der Bericht im Markusevangelium über die Frauen am leeren Grab Jesu in seiner ursprünglichen Fassung wohl geendet haben muss mit dem Satz: „Sie flohen von dort mit Zittern und Entsetzen und sagten niemand irgend etwas.“ Damals half mir das, mich nicht zu überfordern.
Ich fühlte mich auch verstanden, durch die Art, wie Christus den Zweifeln seines Jüngers Thomas an der Auferstehung begegnet.
Lange Jahre, während des sog. Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung ist es mir gegangen, wie vielen Christinnen und Christen weltweit. Die Ostergeschichte der Zeit war die von den beiden namenlosen Jüngern unterwegs nach Emmaus, zu denen sich Jesus unerkannt gesellt. Fragend, sich öffnend, zuhörend entdecken die beiden Sinn und Notwendigkeit im Leidensweg Jesu. Das Erlebnis seiner Gegenwärtigkeit überwältigt sie: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete, als er uns die Schrift öffnete?“ Die beiden von Emmaus, das waren für uns die kleinen Gemeinschaften fern von Jerusalem, die in aller Herren Länder in unserer Zeit ihren Weg von neuem mit den Schätzen der Bergpredigt gehen wollten.
Seit einiger Zeit beschäftigt mich eine eher merkwürdige Ostergeschichte aus dem Johannesevangelium. (Joh. 21,1-14). Mit der Emmaus-Überlieferung des Lukas hat sie gemein, dass auch sie nicht am zentralen Osterschauplatz Jerusalem spielt. Aber abgesehen von einer exakten Ortsangabe bleibt sie viel mehr ins Ungewisse gerückt. Schauplatz ist der See Genezareth, hier mit seinem zweiten Namen „Tiberias“ genannt. Fernab von Jerusalem im Norden Israels gelegen. Die Heimatregion der Jesusgruppe. Jesu Vaterstadt Nazareth liegt westlich seines Südendes.
Unmittelbar nach der Überlieferung vom sog „Ungläubigen Thomas“ setzt der Evangelist noch einmal neu an und bemerkt, es habe eine weitere Offenbarung des Auferstandenen gegeben. Sie habe sich eben dort, am See Tiberias, ereignet. Erlebt hätten sie sieben namentliche genannte und namenlose Jünger; alle wohl Fischer, die nach dem Tod Jesu scheinbar zu ihrem Beruf, in ihr altes Leben zurückgekehrt sind. So jedenfalls muss man es sich vorstellen, wenn man nach einer logischen Abfolge sucht.
Man stelle sich vor: Simon Petrus und die anderen nicht in Jerusalem; überwältigt von der neuen Gewissheit, dass Jesus lebt; jeden Tag unterwegs zu den Leuten mit dieser Botschaft, mit nichts anderem beschäftigt. Die ersten Atemzüge dessen, was einmal die Kirche Jesu Christi auf Erden werden soll. Stattdessen Heimkehrer zu Booten, Netzen, auch zu Frau und Kindern. Heimkehrer, die eine Enttäuschung teilen und vielleicht sogar vergessen wollen. So müsste es ja sein, wollte man einen Zusammenhang zwischen den Tagen von Jerusalem und dieser Ostergeschichte fernab im Norden herstellen.
„Ich will fischen gehen,“ sagt Simon. Ich höre den Unterton, den wir meinen, wenn wir sagen, einer bekäme endlich den Hintern hoch. Der Fischeralltag hat ihn wieder – und die Kollegen machen mit. Sie fahren raus, für eine erfolglose lange Nacht. Fischerschicksal. Auch dies noch: sie können einem Unbekannten am Ufer, der nach etwas Essbarem fragt, nichts verkaufen. Das geht gegen die Fischerehre.
Der Erzähler lässt uns mehr wissen als die Betroffenen selbst. Jesus, auferstanden, steht unerkannt am Ufer. Er gibt den erfolglosen Fischern den Befehl, den wir schon aus der Berufungsgeschichte des Fischers Simon Petrus im Lukasevangelium kennen. „Werft eure Netze aus, rechts vom Boot.“ Ein sensationeller Fang. Und die explosionsartige Erkenntnis des Lieblingsjüngers, den das Johannes-Evangelium des öfteren ohne Namensnennung erwähnt: „Es ist der Herr!“ Na klar! Da wären wir auch drauf gekommen. Wir kennen ja unsere biblischen Geschichten. Simon allerdings reagiert beim diesem Ostercatch völlig anders als seinerzeit, laut Lukas. Damals sagte er, erschüttert von dem unglaublichen Fischerglück: „Herr geh weg von mir. Ich bin ein sündiger Mensch!“ Diesmal will er nichts wie hin zu dem Heiligen, so schnell wie möglich. Das religiöse Tabu hält ihn gerade noch an, sich etwas überzuziehen, fast nackt wie sie sind bei der Arbeit. Dann der Sprung ins Wasser, so schnell wir möglich ans nahe Ufer. Die anderen sind aber kaum später da. Immerhin sichern sie Netz und Fang.
Sie erleben mit dem Auferstandenen ein Holzkohlen-Abendmahl am Ufer. Natürlich kein Abend-Mahl im Sinne der Uhrzeit. Ein gemeinsames Mahl eben. Urerfahrung menschlicher Schicksalsgemeinschaft und Zuwendung. So war es bis an die Grenzen des Fast-Food-Zeitalters und der Just-on-time-Diktatur.
Sie sind wieder zusammen, ohne die eindeutigen Worte und Gesten von gegenseitigem sich Erkennen, sich Anreden von Person zu Person, wie in den Jerusalemer Ostergeschichten. Sie wissen, mit wem sie zusammen sind. Aber sie wagen es nicht, die Frage zu stellen, die Klarheit schaffen würde. Sie erleben trotzdem, dass Jesus wieder die lebendige Mitte ihrer Gemeinschaft ist. Er ist zu ihnen zurückgekehrt, nicht sie zu ihm. Er teilt das Mahl aus. Wir erfahren beiläufig: Mahl mit Jesus, Herrenmahl, das geht offenbar auch mit Brot und Fisch, statt mit Brot und Wein. Brot und Fisch, die durch das Speisungswunder zu Hoffnungszeichen für die Erfüllung des Menschenrechtes auf Nahrung geworden sind.
Warum mich diese Ostergeschichte „außer der Reihe“ besonders bewegt? So wahr sich der Heilige Geist die Freiheit nimmt, in Bildern zu uns zu sprechen; ich höre diese Geschichte als eine Art Ostergeschichte „nach der Zeit der Kirche“. Trotz Auferstehung, irgendwie es scheint für diese Männer hier zuende gegangen zu sein, Resignation, auch im engsten Kreis. Es hat wohl keinen Zweck mehr, den alten Erfahrungen und Hoffnungen nachzuhängen. Man ist wieder Fischer – oder was auch immer. Das Leben muss ja weiter gehen.
In diese Lebenswirklichkeit der Ernüchterten pflanzt der Auferstandene den Neuanfang des Glaubens, eines eher schüchternen Glaubens – ohne großmundige Fragen und Behauptungen; aber tauglich, die Seele sättigend, nicht nur für die Sieben am Ufer, sondern für Alle. Diese Ostermahlzeit am Ufer ist nicht nur ein rituelles Häppchen. Sie macht satt und leistungsfähig. Denn die Botschaft vom Sieg der Liebe und der Gerechtigkeit soll zuletzt nicht hängenbleiben in der Erinnerung von Ex-Jüngern – oder von Ex-Christinnen und Ex-Christen. Das meint auch die Symbolik der 153 Fische, die nach genauer Zählung im Netz gezappelt haben sollen. 153 Arten von Fischen, das waren alle, die man damals kannte. Alle Fische – alle Menschen, heißt das – die ganze Schöpfung. Ostern ist für alle da. Der Auferstandene sucht Blickkontakt mit allen, in Jerusalem, mit den Fischern und mit uns.