(Kurzbiografie zusammengestellt von Karin Rohr)
Harald Rohr wird am 20. Februar 1940 in Breslau in eine traditionsreiche schlesische Pastorenfamilie hineingeboren. Beide Großväter sind Superintendenten, beide in der Bekennenden Kirche.
(Anm.: In der Predigt über Matthäus 5,13 „Wenn Kirchen sterben“ bezieht Harald Rohr sich ausführlich auf die Rolle, die diese beiden Großväter in ihrer Kirche gespielt haben.)
Der mütterliche Großvater, ein kinderliebender, humorvoller Mann, übernimmt die Vaterrolle, weil der tatsächliche Vater an der Front ist. Durch Kriegsumstände verliert Harald mit fünf Jahren fast gleichzeitig Großvater und Mutter und muss unmittelbar nach den Beerdigungen mit der Großmutter nach Bayern fliehen.
Diese traumatischen Erfahrungen eines Kriegskindes sind wohl der Ursprung seiner lebenslangen Beschäftigung mit den Ursachen von Gewalt und Krieg. (Sein lebhaftes Interesse an der Geschichte des Dritten Reiches ließ niemals nach, und das letzte Buch, das er als Schwerkranker kurz vor seinem Tode las, war ein Wälzer von 2000 Seiten über die Familien des deutschen Widerstandes.)
Ende 1945 ist der Vater gefunden, und die Großmutter liefert ihren Enkel in Wattenscheid bei ihm ab. Der Kriegsheimkehrer ist für den traumatisierten kleinen Jungen ein fremder Mann, der ihm Angst macht. Die beiden werden niemals eine Brücke zueinander finden. Durch die zweite Ehe des Vaters bekommt er eine neue Mutter und drei Halbgeschwister und wächst im Münsterland heran. Die Anpassung an die neue Familie, die in preußischer Strenge geführt wird, fällt ihm schwer.
Der atmosphärische Gegensatz seiner beiden Herkunftsfamilien wird ihn lebenslang beschäftigen – genau wie der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur. Die Kraft, sich zu wehren, hat sich durch diese Familienumstände schon bei dem Heranwachsenden gebildet und kam später seinem Lebensthema, dem Kampf um Menschenrechte, zugute.
1953 schickt ihn der Vater in ein Internat bei Minden. Der Abstand zur Familie bekommt ihm gut, und der einstige Schulversager macht 1959 problemlos das Abitur. In Münster und Heidelberg studiert er Theologie und nebenbei manches andere, was den wissbegierigen jungen Mann interessiert – Geschichte, Politik, Zoologie. Die allererste Vorlesung, an die er sich erinnern kann, handelte vom Gebiss einer bestimmten Walart.
Sein zoologisches Interesse bleibt lebenslang bestehen, und die Evolutionstheorie verträgt sich sehr gut mit seinem Glauben an den Schöpfer allen Lebens. Er besucht über die Jahre fast alle großen und kleinen Zoos in Mitteleuropa und erwirbt sich ein beachtliches Fachwissen.
1965 geht er ins Vikariat nach Wattenscheid und Bethel – in einer Zeit der Pfarrerknappheit, in der Vikare ins kalte Wasser geworfen werden und selbstständig volle Pfarrstellen verwalten müssen. So auch Harald Rohr in Wattenscheid. Im Schulvikariat in Münster muss er ein halbes Jahr einen erkrankten Klassenlehrer vertreten. Dabei zeigt sich seine pädagogische Naturbegabung, die ihm im späteren Berufsleben zugutekommen wird.
1966 heiraten Karin Miersch und Harald Rohr, die sich in der Studentengemeinde Münster kennengelernt haben, und bekommen in kurzer Zeit ihre vier Söhne. Harald hätte ihnen gern mehr Zeit geschenkt, aber die Arbeitsbelastung der ersten Berufsjahre ist ungeheuer hoch – auch durch den plötzlichen Weggang eines Kollegen. In der späteren Arbeit für die Eine Welt werden die Eheleute ein gutes Gespann.
Von 1967 bis 1968 ist Harald Hilfsprediger in Herten. Dann wechselt er in die Gemeinde Herne-Baukau und organisiert nebenbei ansehnliche Eine-Welt-Veranstaltungen für den Kirchenkreis.
Daraus entwickelt sich das Informationszentrum Dritte Welt Herne, gefördert von dem charismatischen Superintendenten Fritz Schwarz. Harald Rohr verlässt 1976 die Gemeinde Baukau und wechselt in die für ihn geschaffene Pfarrstelle für Ökumenische Diakonie. In einer angemieteten Villa in der Herner Innenstadt, die auch Platz bietet für einen Dritte-Welt-Laden (damals etwas ganz Neues) und ein Schüler-Café, beginnt er mit einer Sekretärin und zwei Zivildienstleistenden die neue Arbeit.
Es beginnt ein reger Austausch mit Organisationen und Initiativen des Südens. Viele Gäste besuchen das Zentrum und stellen ihre Anliegen der Herner Öffentlichkeit vor. 1978 reist Harald Rohr zum ersten Mal nach Sri Lanka und Indien, später auch nach Ostasien und in den Zaire (heute Kongo), um die Lebenswirklichkeit des Südens zur Kenntnis zu nehmen und die Partner in ihrem Kampf unterstützen zu können.
Das Zentrum wächst rasch und findet immer neue Themen und Aufgaben. Es gibt Referate für Flüchtlinge, gegen Heiratshandel und Zwangsprostition, für Umwelt und Schule, es gibt die Betreuung der Kriegsdienstverweigerer und der „Zivis“ des Kirchenkreises und vieles mehr.
Dabei bleibt das Zentrum immer verbunden mit den Ortsgemeinden. Ohne den Einsatz vieler Gemeindeglieder und sonstiger Ehrenamtlicher wäre die Arbeit gar nicht denkbar gewesen (Anti-Apartheid-Bewegung, Friedensbewegung, Fairer Handel, „Jute statt Plastik“, Erlassjahrkampagne, Landminenkampagne, Teppichkampagne und viele andere Initiativen).
Über Herne hinaus wächst Harald in die ökumenische Arbeit hinein. Als Mitglied der westfälischen Landessynode hat er viele Gelegenheiten, ökumenische Anliegen ins Bewusstsein der Kirche zu rücken, und er nutzt dieses Forum so geschickt, dass seine Beiträge immer mit Spannung erwartet werden.
Für „Brot für die Welt“ sitzt er im Ausschuss für Ökumenische Diakonie, der die Hilfsgelder bewilligt. Mehr und mehr wird er Berater, Ideengeber, Textschreiber des Hilfswerkes, mischt bei politischen Kampagnen mit oder stößt sie selber an. Auch bei der Gründung von FIAN, der Internationalen Organisation für das Menschenrecht auf Nahrung, hat er seine Finger im Spiel.
Die Betreuung des großen Mitarbeiterstabes, die wachsenden Verwaltungsaufgaben und Finanzprobleme, die vielen Ämter und Funktionen fordern ihn allmählich bis an die Grenzen seiner Kraft.
2002 mit 62 Jahren lässt er das alles hinter sich und geht in den Ruhestand. Er zieht in das Dorf Niederndodeleben bei Magdeburg – mit dem ehrenamtlichen Auftrag von „Brot für die Welt“, kirchliche Mitarbeiter in den Neuen Bundesländern für die Eine-Welt-Arbeit fit zu machen. Es folgt eine intensive Reise- und Vortragstätigkeit, bei der er selber viel zu lernen hat. Dort führt er auch seine letzte Kampagne durch, die auf den Verbrauch von fair gehandeltem Kaffee in der Kirche zielt.
2010 zeigt ihm ein leichter Schlaganfall seine Grenzen. Er zieht sich mehr und mehr an den Schreibtisch zurück, liest, sieht fern und radelt durch die Magdeburger Börde. Die Gottesdienstverpflichtungen bleiben aber in vollem Umfang bestehen. Er hat nie darüber gestöhnt, sondern ging gern „in die Bütt“, wie er es manchmal scherzhaft nannte. Seine wöchentlichen Ökumenischen Fürbitten liefert er sogar bis kurz vor seinem Tode ab, die letzten zu Weihnachten 2015.
Die Krebs-Diagnose im Sommer 2015 trifft ihn unerwartet. Die Krankenbesuche der Kinder und Enkel reihen sich lückenlos aneinander. Sie fragen ihn nach seinen wichtigsten Bibeltexten und zeichnen die Gespräche auf. Sein Tod am 12. Januar 2016 kommt für alle zu früh und zu plötzlich.