Ohne Datum, nur handschriftlich vorhanden.
Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.
Lukas 18,9-14
Nehmen wir den Pharisäer als den, der er ist! Kein Schauspieler, der seiner Umwelt den Frommen vorspielt und in Wirklichkeit drauflos lebt. Die fromme Pose würde in unserm Land möglicherweise keine Vorteile bringen. In einer Gesellschaft wie den USA ist die Versuchung der frommen Show durchaus real. Nein, dieser Mann ist aus einem anderen Holz. Ihm liegt wirklich an seinem Gott. Er spricht mit ihm, er betet, frei und konkret – wie Jesus es für das Selbstverständlichste von der Welt hält – auch wenn es in unserm Leben nicht selbstverständlich sein sollte.
Der Beter erwartet wirklich das Urteil über sein Leben, das Urteil über „gelungen“ oder „misslungen“ von seinem Gott – nicht aus dem eigenen Fühlen, Denken und Urteilen. Auch das muss der Christenmensch ihm erst mal nachmachen.
Und er lässt sich die Sache mit Gott etwas kosten. Wir dürfen das so sagen, weil er selbst so argumentiert: „Ich faste zweimal in der Woche und spende 10% von allem, was ich einnehme.“ Zwei Fastentage die Woche, das ist zwar nicht menschenunmöglich und wird gewiss von Glaubenden verschiedener Religionen auch heute praktiziert. Aber als wirklich gelebte Regel hat so etwas schon weitreichende Auswirkungen auf Lebensgefühl und Lebensgestaltung. Und der 10%-Spendensatz, wohlgemerkt nicht 10% Aufschlag auf die Lohnsteuer, was unserer Kirchensteuer entspricht, sondern 10% von allem, was reinkommt, in wirtschaftlich guten und schlechten Tagen. Auch so etwas tun Menschen aus ihrem Glauben oder für andere Ziele – aber wir müssen nicht darüber diskutieren, dass das keine Kleinigkeit ist.
Was dabei herausspringt? Ein Selbstgefühl, das unser Bruder, der Pharisäer nicht missen möchte und das die allermeisten Menschen so wie er anstreben – wenn auch mit deutlich weniger Einsatz: Ich bin besser als andere. Ich bin besser als du.
Nochmal – und um den Unterschied zu billiger Heuchelei nicht aus dem Blick zu verlieren: unser Mann ist wirklich kein Räuber, er betrügt nicht, noch nicht einmal seine Versicherung und sein Finanzamt. Seine Familie und seine Frau können seiner Treue gewiss sein. Welchen Sinn sollte es auch machen, Gott in der Lebensbilanz ein X für ein U vormachen zu wollen. Ja, er ist wirklich nicht so wie die zu Recht übel beleumundeten Zeitgenossen – und jetzt wird’s persönlich – wie dieser Kerl dort, der Zöllner, der kleine Ausbeuter, diese Laus im Pelz der kleinen Leute.
Ja, es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich den moralischen Wert meines Lebens vergleiche mit irgendwelchen finsteren Gestalten aus den Medien oder vom Hörensagen oder mit der Skandalfigur aus meinem Lebenskreis oder gar der eigenen Familie. Da erst kommt die unerbittliche Schärfe ins Spiel.
All der Aufwand religiösen Lebens, wirklichen Einsatzes – für solche Momente, damit ich sagen darf. „Ich bin besser – und Gott, dafür danke ich dir.“ Wie nah, wie hautnah ist uns der, der so betet!
Martin Luther ist gewiss kein geistlicher Zwillingsbruder des Pharisäers. Er wäre nicht auf die Idee gekommen, Gott den Ertrag seines Lebens gleichsam ins Protokoll zu diktieren. Aber nach dem Ja Gottes hat er mit verzweifelter Hartnäckigkeit gesucht, jahrelang – und viel dafür auf sich genommen („Möncherei“).
Gefunden hat er den Weg des Zöllners: „Gott sei mir Sünder gnädig.“ Aus der Bitte wird für ihn die Gewissheit darüber, wie Gott antwortet: „Ja, ich bin dir immer schon gnädig gewesen.“ Der Gott mit der offenen Tür und den offenen Armen. Ohne Protokoll, ohne Anerkennungsverfahren.
Zum Paradebeispiel wählt Jesus einen, der fürs menschliche Auge und Vorurteil wirklich Dreck am Stecken hat. Damit wir´s verstehen: die bedingungslose Barmherzigkeit Gottes umfasst wirklich alle denkbaren Lebensläufe. Es gibt zu Gott keine verschlossenen Türen außer denen, die wir selber zuknallen, und auch die gehen wieder auf – eine einfache Bitte genügt.