Jugendarbeitslosigkeit? Kenn ich nicht!

Fastenaktion 2013, 17. März

Ein Gespenst geht um in EU-Europa. Das Gespenst der Jugendarbeitslosigkeit. Wirklich? Als ich vor 46 Jahren mit Ach und Krach das letzte Examen hinter mir hatte, konnte ich mir den Arbeitsplatz auch nicht nach Belieben auswählen! Er wurde mir zugeteilt, ohne Möglichkeit zum Widerspruch.

Aber bevor ich anfange, Märchen zu erzählen: mein Arbeitgeber nannte die Aufteilung der frisch übernommenen Jungakademiker den „Sklavenmarkt“. Damit war gemeint, dass man wieder mal eine kleine Gruppe Berufsanfänger zur Verfügung hatte, mit der sich die ärgsten Lücken im Stellenplan schließen ließen. Meine Frau, für die der Kultusminister zuständig war, wäre als Lehrerin ebenso mühelos in Lohn und Brot gekommen, wie ich beim Arbeitgeber Kirche. Aber welcher Arbeitgeber der 60er Jahre war nicht heiß auf jeden Jahrgang, der von Berufsschulen und Unis entlassen wurde! Parallel zu unseren Lernbemühungen lief ja im selben Jahrzehnt in den Ländern rund ums Mittelmeer die große Anwerbewelle der hilflos-unehrlich „Gastarbeiter“ genannten Menschen an. Obwohl Zeitgenosse, weiß ich kaum noch, wie Deutschland ohne sie, ihre Kinder, ihre Alltagskultur, ihre Pizzerien und Dönerbuden, später auch ihre Moscheen, ausgesehen hat.

Nein, Jugendarbeitslosigkeit hat uns nicht nur keine Angst gemacht. Wir konnten sie uns überhaupt nicht vorstellen. Was ist das? Wir Studis waren ja schon heiß begehrt, noch bevor uns irgend welche Fähigkeiten bescheinigt worden waren. Abermillionen von Arbeitsabläufen, die seit Jahrzehnten wegrationalisiert sind, haben uns in den Semesterferien gutes Geld eingebracht. Straßenbahnschaffner, die mit der Lochzange, Stromableser mit dicken Kladden unterm Arm, Straßenkehrer mit echtem Besen: alle wollten sie auch damals schon Urlaub machen in Bella Italia. Darum wartete die Nation ungeduldig auf unseren Kurzzeit-Einsatz.

Und arbeitswillig, nein arbeitsfreudig waren wir auch, wenn ich von mir auf meine GenerationsgenossInnen schließen darf. Na klar, das ist eine Banalität: jeder nicht verbogene oder schwer frustrierte junge Erwachsene gleicht ja wohl dem temperamentvollen Hund, den man auf freiem Feld von der Leine lässt, ihm selbst und Herrchen zur Freude.

Mit dieser Vorgeschichte fällt es mir nicht leicht, mir das, was ich lese, als gesellschaftliche Realität vorzustellen. Wie fühlt sich eine südeuropäische Stadt an, in der mehr als die Hälfte aller jungen Erwachsenen arbeitslos sind? Auf „Hotel Mama“ angewiesen, noch lange nach der natürlichen Ablösungsphase. Eine Stadt, wo der Gang zum Arbeitsamt einfach keinen Sinn mehr macht. Wo die Stimmung der Zukunftsgeneration schwankt zwischen blanker Wut und Resignation. Diese Städte in unserer unmittelbaren europäischen Nachbarschaft haben viele Namen: Athen, Palermo, Malaga, Porto usw. Schlimmer noch muss es in den Kleinstädten sein, mit den Namen, die wir nur mühsam buchstabieren können. Wir hören unsere Regierenden reden von der bitteren Medizin, die trotz allem leider geschluckt werden müsse. Neuerdings bemerken wir die Gelüste unserer Wirtschaft und unserer sozialen Dienste, sich die Besten aus der Masse der Perspektivlosen herauszupicken, um mit ihnen unsere eigenen Löcher zu stopfen.

Aber wirklich verstehen? Begreifen, was man selber nie erlebt hat? Ich befürchte, nicht nur ich habe dies Problem. Gefährlicher ist es, wenn die Frauen und Männer der Machteliten nicht fühlen können, was sie fühlen müssten, um angemessen zu entscheiden. 55, 53, 40 Prozent der jungen Generation arbeitslos, von Land zu Land: das sind nicht einfach miese Wirtschaftsdaten. Das ist eine ungeheuerliche Provokation, eine Kriegserklärung der Älteren an die Seelen der jungen Europäerinnen und Europäer – solange jedenfalls, wie nicht alle Generationen und alle Nationen, die sich zum eigenen Nutzen in der EU aneinander gebunden haben, diesen Notstand gemeinsam auf die Hörner nehmen. Geteiltes Leid ist ja wirklich halbes Leid und erheblich mehr als nur der erste Schritt zur Besserung.

Die zornige Jugend lediglich von oben herab mit guten Ratschlägen zu versorgen, wird alles nur schlimmer machen. Schon gar nicht dürfen Europas ältere Generationen, Politiker wie Bürger, Verständnis erwarten für das Verlangen, die Jungen möchten doch bitte sehr einsparen, was die Alten auf den Kopp gehauen haben. Wäre ich 25, mit dem Diplom der Hoffnungslosigkeit in der Tasche, und ich wüsste, was ich dächte.

Zur geldpolitischen Auflösung des Banken- und Staatsschulden-Dilemmas kommen mir keine Ideen in den Sinn, die nicht Berufenere längst auf den Tisch gelegt hätten.

Für den Fall allerdings, dass Regierende in Berlin oder Brüssel sich vor meinen Reaktionen an der Wahlurne fürchten, sodass sie lieber nichts riskieren, noch diese zwei Klarstellungen:

ich will nicht weniger, sondern mehr erfahren über den Zorn und die Forderungen der jungen Generation Europas. Sie in irgend welche Buhmann-Ecken zu schieben, erinnert mich sowieso daran, was man meiner Generation alles anhängen wollte, als wir weder Pershing II-Raketen noch flächendeckende Atomkraftwerke toll fanden.

Und gäbe es mal eine glaubwürdige Arbeitsmarktsteuer für Europas Jugend, ich würde sie bereitwillig zahlen.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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