Fastenaktion 2013, 18. März
Sie kommen auf Anhieb gut miteinander aus: der Mittvierziger, Familienvater und IT-Fachmann und der Alte aus der Kriegskinder-Generation. Für ein verlängertes Wochenende müssen sie ein Krankenhauszimmer miteinander teilen. Alle paar Stunden rund um die Uhr kurze Untersuchungen. Ansonsten viel Zeit. Vor der Tür dickflüssiger Schneematsch, in 500 Meter Umkreis sowie nichts als andere Klinikgebäude, Stunden zählen. Nach allerlei Austausch über Freuden, Plagen und Sinn des Lebens wird da sogar der Fernseher zur Lebenshilfe. Freilich: zwei Köppe, eine Kiste. Man muss sich einigen. Am ersten Abend kein Problem. Der Junge, Ex-Handballer kommt voll auf seine Kosten. Ein Pokalspiel nach dem andern auf einem Sportkanal. Der Alte bleibt ungestört bei seiner dicken Wochenendzeitung.
24 Stunden später ist der Langeweile-Pegel eher noch angestiegen. Dröge Krankenhaus-Mahlzeiten mit reichlich Plastik-Müll werden zum Ereignis. Die ersten Themen im Kumpel-Talk beginnen sich zu wiederholen. Der Tag kriecht. Aber nachher wird ja auf das Abendprogramm im Fernsehen Verlass sein – denken beide, ohne darüber zu reden. Erst kurz vor der Tagesschau rückt der Alte mit seinem Vorschlag heraus: „Heute beginnt eine Spielfilmserie über junge Leute im Zweiten Weltkrieg. Soll ein neues Konzept sein, sehr realistisch und ehrlich. Also, mich interessiert das.“ Das Einverständnis des Jungen klingt wenig enthusiastisch. „Wenn Sie meinen. Ich hab ja genug von diesem Kriegszeug. Aber dann kuck ich eben mit.“ Ein paar Minuten verkniffenes Schweigen. Dann kurz, kurz vor dem Wetter, fasst der Junge noch mal nach. „Ich hab im Programm nachgesehen.“ Zum Beweis hält er sein Smartphone hoch. „Der „Tatort“ im Ersten handelt auch vom Krieg. Afghanistan. Wenn Sie auf Krieg stehen! Ist doch aktueller! Laut Programm auch ganz hart und ehrlich.“
Mehr als ein „Hhmm“ ist von dem Alten nicht zu hören. Der Junge nimmt das als Zustimmung und bleibt gleich auf dem Tatort-Kanal. Der Alte dreht sich vom Bildschirm weg und greift nach ein paar Minuten zu einer Lektüre. Sein Kalkül: Wenn dieser Film nur halb so bemerkenswert ist, wie alle Vorbesprechungen sagen, wird er noch oft genug wiederholt werden. Aber dieser Filmtitel „Unsere Mütter , unsere Väter“, das ist nun mal wie eine unauslöschliche Überschrift über den Lebensläufen der Deutschen seiner Generation, aufgezogen von Eltern, die unter einem Schock standen, der sich nicht lösen wollte. Oder auch aufgezogen ohne die Väter oder Mütter, die zu den Kriegstoten zählten.
Tags darauf sind die beiden mit einem sehr freundlichen „Auf Wiedersehen“ auseinandergegangen. Auf die Programmauswahl vom Vorabend sind sie nicht mehr zurückgekommen. Dafür standen sie sich denn doch nicht nahe genug. Der Junge hat ja recht, wenn er sich aus gegebenem Anlass mit dem Afghanistan-Krieg beschäftigt. Unter jeder Postleitzahl gibt es in Deutschland inzwischen Wohnungstüren, hinter denen die in ihren Seelen Verwundeten dieses Krieges und ihre mit getroffenen Familien leben. Kriegsopfer eines Krieges, dessen deutsche Kombattanten von einem Parlament losgeschickt wurden; eines Krieges, in dem man tote Soldaten noch einzeln zählt; in dem jedes irrtümlich zusammengebombte Dorf immerhin noch Schlagzeilen macht, ein Krieg; dessen begleitende Rhetorik zunehmend nüchterner wird; ein Krieg, in dem trotzdem „nichts gut ist“.
Dessen ungeachtet hat der Alte guten Grund, sich für die Wiederholungstermine dieses Filmexperimentes zu interessierten. Er ist, wie er ist, weil die Verkrüppelungen in der Seele seines Kompaniechef-Vaters, seine verlorene Fähigkeit zu Mitgefühl und Herzlichkeit nie geheilt worden ist; weil der Platz der umgekommenen Mutter leer blieb. Er hat darüber nicht geredet, wie die meisten Kinder, durch deren frühe Erinnerungen unpräzise Kriegsbilder und chaotische Trümmerlandschaften geistern. Aber sie wissen doch: es hätte anders sein sollen, damit sie anders hätten leben, reden und handeln können.
Die Kinder dieser „Mütter und Väter“ hatten nicht die beste Prognose für die eigene Elternrolle. Wiederum Kind dieser Kinder, Enkel der „Mütter und Väter“ zu sein, das muss millionenfach seelische Verwirrung gestiftet haben. Warum sind Vater oder Mutter mal so und dann ganz anders, oft unberechenbar, ihrer Rolle unsicher? Es mag nicht für alle Länder und Gesellschaften gelten, Gott-sei-dank nicht. Aber wer in Deutschland im frühen 21. Jahrhunder noch etwas tun will für das schwierige Verhältnis zu den alten Eltern, der suche nach den Lebensspuren seiner Großeltern. Lebenshungrige junge Frauen und Männer, die dann in wenigen Jahren durch die Hölle gingen und lernten, anderen die Hölle zu bereiten; die danach vom 8. auf den 9. Mai 1945 wieder ein Schauspiel absurder Normalität aufführen sollten.
Wir riskieren etwas mit jedem Blick hinter die Fassade des Krieges, hinter die scheinbare Sachlichkeit von Strategien und Kriegszielen; hinter den angeblichen Heroismus von Siegern oder Besiegten. Aber der Schrecken, der die Seele dabei überfällt, schafft auch das Vakuum, in dem sich der Mut zum Frieden ausbreiten kann.