Fastenaktion 2013, Karsamstag 30. März
Der Statthalter Pilatus neigt nicht zu unnötigen Grausamkeiten. Er hat sich zwar entschlossen, Jesus von Nazareth exekutieren zu lassen. Dabei hat er sich in einer Zwangslage gesehen. Aber er hat kein Interesse daran, mit der Leiche noch ein abschreckendes Schauspiel zu veranstalten. Andere Herren über Leben und Tod tun das, wenn ihnen danach ist. Weil Pilatus ist, wie er ist, kann Joseph von Arimathia sich den Leichnam anstandslos aushändigen lassen und Jesus würdig begraben. Wir bekommen den Eindruck, dass hier ein treuer Anhänger seinem Meister wirklich eine letzte Ehre erweisen will. In unseren Kategorien gesprochen: kein schlichtes Reihengrab, eine besondere Gruft, ein Ort für künftiges Gedenken.
Was Joseph tut, ist das Menschenmögliche im Angesicht des Todes. Er schafft einen Ort für die Trauer. Und schon unmittelbar nach der Sabbatruhe machen sich Jesu trauernde Jüngerinnen auf den Weg zu diesem Ort. Aber damit beginnt eine ganz andere Geschichte…
Der Karsamstag mit dem Felsengrab, das Joseph für Jesus bereitstellt, wäre jedenfalls für Christinnen und Christen der nahe liegende Erinnerungstag an die ungezählten Gewaltopfer, die am Ende noch nicht einmal ein Grab finden. Nicht immer, aber sehr sehr oft ist das furchtbar böse Absicht derer, die die Leichen verschwinden lassen und die Hinterbliebenen damit gezielt nicht enden wollenden seelischen Qualen aussetzen. Verschwundene Väter und ihre Söhne, Mütter und ihre verschwundenen Töchter werden zum Beispiel derselben Protestbewegung , derselben Oppositionsgruppe, derselben Minderheit zugerechnet. Die Trauer ohne Gewissheit, ohne Grab, soll die Lebenden lähmen und gefügig machen.
Die Foltermethode der Grabverweigerung scheint in den schmutzigen Kriegen und Bürgerkriegen mittlerweile so ausgeklügelt zu sein, dass es mich nicht wundern sollte, wenn sich dahinter ein Unterrichtsfach an den einschlägigen Akademien des Terrors verbirgt. Gefesselte Gefangene über dem Meer aus Hubschraubern in den Ertrinkungstod zu werfen, ist nur eine Spielart einschlägiger Verbrechen. Sorgfältig eingeebnete Massengräber, die irgendwann irgendwo zufällig entdeckt werden, ohne Hinweise auf die Identität der Leichen mit den Einschusslöchern im Hinterkopf, sind immer noch die häufigere und preiswertere Variante.
Wann immer ich davon erfahren habe, das Kirchensteuermittel oder auch Dritte-Welt- Spendengelder dafür verwandt wurden, die Identität von Opfern politischer Morde zu ermitteln, war ich aus tiefem Herzen damit einverstanden. So gewöhnungsbedürftig die Fotos von der gerichtsmedizinischen Begutachtung ganzer Leichenfelder auch aussehen mögen: am Ende hatten viele Eltern, Kinder, Ehepartner endlich die Chance, ihre Trauer auf ein Stück ermittelte Wahrheit und Wirklichkeit zu richten; vielleicht eine Beisetzung auszurichten oder wenigstens auf einem Familiengrab eine zusätzliche kleine Gedenktafel mit echten Daten aufzustellen – so, wie man sie auch auf unseren Friedhöfen als Erinnerung an Kriegstote aus der eigenen Familie findet.
Dafür haben nicht nur die längst weltbekannten Mütter von der Plaza de Mayo in Buenos Aires mit langem Atem gekämpft. Immer wieder haben sie im politischen Machtzentrum Argentiniens demonstrativ Aufklärung gefordert über das Schicksal ihrer während der Militärdiktatur von 1976-83 verschleppten Kinder. Mancher Obduktionsbefund hat auch ihnen aus der ausweglosen Trauer heraus geholfen. Sie haben jetzt endlich, was die Jesus von Nazareth Nahestehenden der Nüchternheit des Pilatus und der großherzigen Liebe des Joseph von Arimathia zu verdanken hatten.
Dabei habe ich nicht vergessen, dass die Verweigerung eines Grabes in schrecklichen Ausnahmefällen auch Ausdruck der Notwehr einer Gesellschaft sein kann. In der Erwartung ihrer Todesurteile haben einige völlig Uneinsichtige unter den Angeklagten des Nürnberger Prozesses 1945/46 davon phantasiert, dass ihre Gräber schon in naher Zukunft Wallfahrtsorte einer neuen Nazibewegung sein würden. Das Tribunal hat auch deshalb verfügt, das ihre Asche irgendwo in einen Bach geschüttet wurde. Die Leiche des Völkermörders Heinrich Himmler hatten britische Soldaten schon früher in einem Wald verschwinden lassen – ohne irgend welche Aktennotizen.
Niemand weiß, was unserem Volk durch diese Grabverweigerungen an unsäglichen Konflikten erspart geblieben ist.
Trotzdem: ein paar Familien müssen dafür einen Preis bezahlen, auch diesmal