Unentbehrlich: Die Beihilfe der kleinen Leute

 

Einstweilen sind es nur Pressestellen unserer Justizministerien und ihrer höchsten nachgeordneten Behörden, noch lange nicht die Gerichte, die sich in dieser Sache rühren: einer Handvoll Greise, die einst zu den Wachmannschaften unserer KZs gehörten, soll doch noch der Prozess gemacht werden. Selbst wenn man die einmaligen Aufstiegschancen in Rechnung stellt, die die Mordkommandos unter dem SS-Totenkopf boten: einfaches Kopfrechnen macht klar, dass diese Pflegeheim-Kandidaten damals erst auf den untersten Sprossen der KZ-Karriereleiter gestanden haben können. Wenn das mit den Anklagen wegen Beihilfe zum Mord ernst gemeint ist, dann zählt nach den Gesetzen von Leben und Sterben jetzt buchstäblich jede Woche, mindestens jeder Monat. Die Tore einer deutschen Justizvollzugsanstalt des 21. Jahrhunderts wird von diesen Landsleuten ohnehin niemand mehr durchschreiten müssen. Haftantritt zwischen dem 95. und 100. Geburtstag? Unvorstellbar.

 

Ich versuche zu verstehen. Ich bin etwa 15 Jahre zu jung, als das man mich noch in eine SS-Uniform hätte stecken können. Zu den furchtbar geblendeten Freiwilligen früherer Jahre kamen gegen Ende des Zwölfjährigen Reiches die unfreiwillig zur SS Eingezogenen der Günther Graß-Generation. Ob meine Familie mich davor bewahrt hätte? Soll ich mich etwa darauf verlassen und mich entspannen? Ob man von diesem letzten Teenager-Kanonenfutter der SS noch welche für die Vernichtungsmaschine von Auschwitz entbehren konnte? Eher unwahrscheinlich. Die Fachhistoriker werden es wissen. An der Rampe, im Lager, an den Installationen des Massenmordes brauchte es gewisse Gesinnungs- und Handwerkskompetenzen, die sich nicht von heute auf morgen erwerben ließen.

Auch die 22-Jährigen mussten in Auschwitz und Treblinka funktionieren und haben funktioniert. Eine Handvoll ganz Junger haben dann auch in den Auschwitz-Prozessen der 60er Jahre mit auf der Anklagebank gesessen und sind zu entsetzlicher Prominenz gelangt. Von 1933 bis zu den Todesmärschen in den ersten Monaten des Jahres 1945 brauchten die KZ-Kommandanten und ihre Führungskräfte viele zehntausend „Wachmänner“, um die Mordmaschine einsatzbereit zu halten. Wachmann, ein unglaubliches Wort! Dazu muss man gar nicht an das heutige Wach- und Schließgewerbe denken. Schon ein Vergleich mit den Bediensteten in unseren Gefängnissen wäre haarsträubend. Auch Sprache wird im Unrechtsstaat zur heimtückischen Waffe.

 

Zweimal in meinem Erwachsenenleben habe ich zweifelsfrei Männer getroffen, die zu den Wachmannschaften von Auschwitz gehört haben. Denn sie haben offen – nicht ehrlich – mit mir darüber gesprochen; geschützt durch das Wissen, dass mir strikte Verschwiegenheitspflicht auferlegt war. Außerdem: wer hätte sich in den 70er Jahren für einen schlichten „SS-Sturmmann“ oder „Rottenführer“ aus einer „Wacheinheit“ interessiert, solange sich nicht Überlebende präzise an Namen und Taten erinnert hätten? Die beiden von damals müssen lange tot sein. Die heutigen Verdächtigten sind um einiges jünger.

 

Zwei aus dieser Generation älterer Brüder bzw. der Väter habe ich also bestimmt getroffen. In Wirklichkeit müssen es deutlich mehr gewesen sein. Jeder Deutsche, der von Berufs wegen viele Landsleute trifft, muss selbstverständlich hin und wieder Worte und anderes mit diesen Ehemaligen gewechselt haben. Die Todesrate der KZ-Wachmannschaften kann wirklich nicht so hoch gewesen sein, wie die an den Fronten verheizter Kampfverbände. Zehntausende sind nach der Sprengung der Krematorien in den Schoß unserer Gesellschaft zurück gekehrt. Die Justiz hat ihnen den Weg geebnet. Der jetzt neu formulierte Begriff der „Beihilfe“ war im Zusammenhang mit KZ-Verbrechen zwei Generationen lang geradezu tabu.

 

Jetzt wird also versucht, was nur misslingen kann, und trotzdem versucht werden muss. Sofern Ärzte sie für verhandlungsfähig erklären, werden die Greise gezwungen, auf ihre schreckliche Vergangenheit zurück zu blicken. Es ist ihre Vergangenheit, ihre persönliche. Man muss befürchten, dass sie durch ihre Anwälte furchtbare Ausreden vortragen lassen werden.

 

Wichtiger ist mir: im Schatten dieser Uralten sehe ich noch einmal die zeitgenössischen Generationen der kleinen Leute im Verhör. Die Mütter und Väter, die sich das Foto mit dem Jungen in SS-Uniform stolz auf das Vertiko gestellt haben und sich nichts dabei dachten, dass er in einem Lager „Dienst“ tut. Alle die, die ihre Kinder nicht bedrängt haben, sich von Auschwitz weg zu melden, was ja möglich war und was – soweit wir wissen – niemanden das Leben gekostet hat.

 

Ein Blick zurück, der sonnenklar macht, dass wir kleinen Leute unsere Gewissen nie und nimmer denen ausliefern dürfen, die zu Recht oder Unrecht Macht über uns haben. Ich hoffe, dass Gerichte im Fall der Fälle unserem Volk noch einmal diesen Blick schärfen.

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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