Ich löffele gemütlich mein Frühstücksei. Dazu gesellt sich die ruhige Stimme eines Experten, der gerade im Radio interviewt wird. Wie ich erfahre, ist der Mann Konsumforscher, also jemand, der mir aufs Portemonnaie und aufs Sparkonto schaut. Die Redakteurin will wissen, was dieser Fachmann von der Absicht der ins Haus stehenden Berliner Großen Koalition hält, einen Mindestlohn von 8,50 € gesetzlich zu verordnen.
Der Mann, der mich erforscht und kennt – schließlich kann ich kaum leugnen, ein Konsument zu sein, – lässt mich in der nächsten 60 Sekunden wissen, was für ein sensibles Seelchen ich bin. Er sagt das nicht wörtlich, aber er ist offensichtlich felsenfest davon überzeugt. Meine und meinesgleichen Sensibilität sprächen entschieden gegen einen derart hohen Mindestlohn in Deutschland. Schon die Ankündigungen der Parteiunterhändler, dass es wohl auf so was hinauslaufen werde, lassen bei so einem wie mir die Alarmglocken schrillen. Anschließend mutiere ich vor Schreck zum Kaufmuffel. Mein Radioexperte erklärt mir genauer, wie ich, der Konsument, ticke:
also, wenn demnächst Friseusen und Kellner stündlich drei Euro mehr einstreichen, denke ich mir, werden Steuern auf Unternehmensgewinne und andere Steuern einbrechen: Das Untier der Rezession wird sein Haupt erheben und die Zähne fletschen. Also heute schon Notgroschen bunkern statt Karibikurlaub buchen oder das neue Auto bestellen!
Nein, so das fachmännische Fazit, wer derart scheue Konsumentenseelen millionenfach im Lande hat, der handelt einfach unverantwortlich, wenn er das Füllhorn eines Mindestlohn ausgießt.
Ich vermag zu folgen. Ist ja auch nicht zu allzu schwer. Aber in diese Schublade, in die ich da rein soll, werde ich bei aller Wertschätzung für volkswirtschaftliches Fachwissen nicht hüpfen. Die Putzfrau im Citycenter, der ich gestern für einen Augenblick Platz gemacht habe, als Buhfrau für mein wirtschaftliches Wohlergehen? Mich davor fürchten, dass die alleinerziehende Mutter zwei Häuser weiter irgendwann in näherer Zukunft mal wieder eine Kinokarte bezahlen kann? Da kenne ich wahrlich andere, die mich sehr viel energischer am Wickel halten; die mich notfalls samt meinem Notgroschen für den Pflegeheim-Fall zum Ausfallbürger für ihre Zockereien heranziehen werden – ungefragt selbstverständlich.
Lassen wir den Konsumforscher aus dem Radio beiseite. In der Eile habe ich mir noch nicht einmal seinen Namen gemerkt. Weiß ich, wer seinen Lehrstuhl oder sein Institut sponsort oder es für den wirtschafts- und sozialpolitischen Machtkampf sogar extra unterhält.
Armenbashing ohne rot zu werden ist unter uns mittlerweile derart hoffähig geworden, dass man nur den Wadenbeißer-Tonfall vermeiden muss, um damit überhaupt nicht mehr aufzufallen. Alle, die wir einigermaßen sicher ein Stück oberhalb der der 1.000-Euro-Netto-Linie leben, reden allzu oft über unsere armen Nachbarinnen und Nachbarn, als wären sie eine unerfreuliche, aber leider unvermeidliche und grundsätzlich verdächtige halblegale Randgruppe der Gesellschaft.
Dabei sind sie Menschen wie Du und ich im umfassensten Sinn des Wortes. Und, wir wissen es,; viele von uns trennen nur ein paar glücklose Durchläufe im sozialen Roulett von ihren Alltagsproblemen.
In der Stunde, die es gebraucht, diese Sätze hinzuschreiben und zu überdenken, haben meine Miete, meine Krankenversicherung, mein Frühstück, die Zuzahlung bei meinen morgentlichen Medikamenten anteilig deutlich mehr gekostet, als die 8,50 €, die mein Laub fegender Altersgenosse draußen vor dem Fenster hoffentlich demnächst bekommt. Nein, Herr Professor! Irgend etwas bei Ihrem wirtschaftspolitischen Feindlagebild kann wirklich nicht stimmen.