Sommerzeit


Grüß Gott, liebe Christenmenschen,

das war wirklich eine aufregende Ankündigung – und ich hatte eine ganze Woche Zeit, darüber nachzudenken, wie sie’s wohl anstellen werden. Zuzutrauen ist ihnen ja vieles, den Christenmenschen. Aber das? Das wäre ja mindestens so ein Ding wie mit dem Turm von Babel, das seinerzeit ziemlich daneben gegangen ist.


Kurzum, da höre ich mir eines schönen Märzsonntags im Gottesdienst die Bekanntmachungen an und denke mir nichts weiter dabei; eben alles die vertrauten Termine aus dem Gemeindeleben. Da sagt doch der Pastor zum Schluß, die Christenmenschen mögen daran denken, daß ab nächsten Sonntag Sommerzeit wäre. Da sei es schon eine Stunde früher zehn Uhr, und die Leute sollten sich keinesfalls die ausgezeichnete Predigt entgehen lassen, die er kommenden Sonntag um zehn Uhr Sommerzeit zu halten gedächte. Zu meiner Überraschung blieben die Christenmenschen bei dieser sensationellen Ankündigung völlig gelassen. Stellt Euch vor, da kündigt einer an, daß er den Lauf der Sonne um eine Stunde zu beschleunigen gedenkt, und alle Zuhörer bleiben so ungerührt, wie bei der Bekanntgabe des Kollektenergebnisses vom 19. Sonntag nach Trinitatis. Womöglich war das ganze nur eine etwas humorvolle Gottesdiensteinladung? Aber selbst die Frau vom Pastor hat nicht gelächelt. Mich lehrt die Erfahrung unseres Mäusegeschlechtes, daß man Äußerungen aus Menschenmund besser ernst nimmt. Bei Euch kann man wirklich nie wissen.


Aber wie wollen sie unsere Sonne bewegen, eine Stunde früher zu erscheinen? Ich gebe zu, daß ich mir eine Woche lang die abenteuerlichsten Lösungen vorgestellt habe. Vielleicht geben sie der Sonne im Dunkeln ein Konzert, mit so betörend schönen Morgenliedern, daß sie gar nicht anders kann und früher erscheint. Oder weil Menschen ja manchmal zu etwas gewaltsamen Lösungen neigen, sie legen ein großes Seil um die Sonne und zerren sie gewaltsam eine Stunde früher aus dem Bett. Oder, wenn wirklich die abenteuerliche Behauptung der Christenmenschen stimmen sollte, daß die Erde sich in Wahrheit um die Sonne dreht, dann müßten sie ja wohl unserer Mutter Erde Gewalt antun. Ob sie diese scheußlichen Raketen nehmen werden, um unsere Erde schneller durch ihre Bahn zu zerren?

Ja, Ihr könnt mir’s glauben. Richtig gegrübelt habe ich eine Woche lang und schlecht geschlafen, vor allem die Nacht zum Sonntag. Und wie ich da ganz erschöpft vor mich hindöse, fangen plötzlich die Glocken an zu läuten. Die Stunde, muß ich dazu sagen, ist ja eine menschliche Erfindung. Aber Maus hat sich daran gewöhnt. Eindeutig halb neun und keine Minute später! Natürlich habe ich sofort mein Fell in die Morgensonne gehalten. So fühlt sich Morgensonne im März um halb neun in der Frühe auf einem Mäusefell an. Da kann uns niemand etwas vormachen. Da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Die Menschen tun nur so, als könnten sie den Lauf der Sonne und die Zeit unter ihre Herrschaft zwingen. In Wahrheit sind sie die einzigen, die sich einbilden, die Ordnung des Schöpfers verändern zu können.

Also werde ich künftig mein morgendliches Sonnenbad nehmen in dem Bewußtsein, daß jedes Ding auf Erden seine rechte Zeit hat. Nur am Sonntagmorgen muß ich mich auf den Zeitwahn der Menschen einstellen,

leider, leider, seufzt die Kirchenmaus