Assyrische Christen? Das war irgendwas. Hinter den Nebelwänden meines Theologiestudiums Mitte des vorigen Jahrhunderts tauchen vage Erinnerungen auf: in einem der ersten leidenschaftlichen Konflikte der jungen Christenheit gehörten die assyrischen Ortskirchen zu den Verlierern. Es ging um keine Kleinigkeit. Die Christen suchten nach einer Bekenntnisformel, in der sich ihre Erfahrungen mit Jesus von Nazareth, dem Christus, knapp und überzeugend ausdrücken ließen. Wahrer Mensch und wahrer Gott – in einer Person. Dieser Satz, der heute christliches Allgemeingut zu sein scheint, war es damals keineswegs. Die Assyrer, immerhin unter den allerersten Jesus-Gemeinden, stimmten nicht zu, andere auch nicht.
Die Einzelheiten des Dogmenstreites, so wichtig er objektiv war, gehören nicht hier her. Jede Formel, auch die danach gültige, ist ja eine Verstehenskrücke, eine Eselsbrücke, die nicht gerade dem allgemein menschlichen Alltag entnommen ist.
Die Assyrer, damals Nestorianer genannt, gehörten zu den Verlierern auf dem entscheidenden Konzil von Ephesus im Jahr 431 und bekamen das von den Mehrheitskirchen auch kräftig um die Ohren gehauen. Das Unwesen der Ketzerverfolgung hat sie und eine Reihe anderer Abweichler aufs Korn genommen. Und noch ein stud. theol. nach dem Zweiten Weltkrieg lernte, sie und andere Verlierer von damals unter die abtrünnigen Pseudo-Kirchen zu buchen.
Denn immerhin, sie hatten überlebt. Ein Teil der assyrischen Gemeinden machte später seinen Frieden mit der Kirche Roms und nannte sich fortan Chaldäer. Auch ihr Name taucht in den Annalen der aktuellen Kriegsverbrechen in Syrien und dem Irak auf.
Die hartnäckigen Assyrer lebten Generation um Generation, Jahrhundert um Jahrhundert in ihrer Heimat. Nach heutigen Begriffen war das eine südöstliche Grenzregion der Türkei. Anfang des 20. Jahrhunderts gehörten sie dann zu den Verfolgten und Vertriebenen jenes Krieges, dessen bekannteste Opfer die Armenier wurden. Die Assyrer mussten fliehen und leben seit rund 100 Jahren im Dörfern entlang des Flusses Chabur im Norden von Syrien. Eine Mehrheit freilich wanderte aus in alle Welt, dorthin wo Religionsfreiheit herrscht.
Und jetzt, zu Beginn unserer Fasten- bzw. Passionszeit 2015, haben die assyrisch-christlichen Dörfer den Überfall der IS-Terrormilizen erdulden müssen. Mehrere hundert Christenmenschen sind verschleppt worden, einige wohl grüppchenweise gegen Lösegeld frei gekommen. Andere, melden syrische Quellen, sind Dschihad-Mördern zum Opfer gefallen. Wer will am Grünen Tisch deutscher Kirchen solche Meldungen abschließend bewerten? Das Furchtbare: alles ist möglich, all das sind wohlfeile Verbrechen gegen die universellen und unteilbaren Menschenrechte, die längst begangen wurden; die im www.-Zeitalter Tag für Tag neu angekündigt werden.
Den Folterer und Mördern, die auch ihre eigene Religion in den Dreck stampfen, ist es furchtbar egal, ob die Assyrischen Christen irgend wann einmal in innerchristlichen Auseinandersetzungen diffamiert worden sind. Innerislamische Konflikte, in denen einst schrecklich heiß gekocht worden ist, gibt es ja zuhauf. So etwas lässt sich heute je nach Interessenlage abhaken oder erneut hochkochen. Etliche Bürgerkriege leben davon.
Mir allerdings wird peinlich bewusst, dass uralte Verurteilungen, Momentaufnahmen der oft so hilflosen Kirchengeschichte, womöglich auch jetzt noch die simpelste Geschwisterlichkeit zwischen Christen in Todesgefahr und solchen in Rechtssicherheit erschweren könnten. Zumal der historische Anlass doch alle Anzeichen der Kümmerlichkeit trägt. Wie, bitte, sollen wir Christinnen und Christen denn unsere Erfahrungen mit Jesus von Nazareth auf die eine Zeiten und Denkarchitekturen überdauernde, Formel bringen? Die Siegerformel von Ephesus bedarf ja ihrerseits Generation für Generation der Auslegung, auch heute, wie immer schon. Sie steht nicht schwarz auf weiß in der Bibel. Und selbst wenn, das würde fragende Herzen ja nicht einfach ruhig stellen. Außerdem, merke: Kirchengeschichte und Machtgeschichte haben dies gemein, dass sie immer aus der Perspektive der Sieger festgeschrieben werden. Das zeigten schon die Anekdoten über gesundheitliche Probleme altkirchlicher Ketzer, mit denen uns ein Katheder-Star seinerzeit amüsierte.
Sollte es also tatsächlich irgendwelche leitenden Leute in den Großkirchen geben, die den Nachfahren der Nestorianer ihre antike Sturheit immer noch übel nehmen – und sei es nur unbewusst, dann ist umgehende Besinnung vonnöten.
„Vergib uns. Wir wussten es damals nicht besser.“ Dann können wir, gut urchristlich, weinen mit den Weinenden. Und, wenn möglich, dazu beitragen, dass Gottes Kinder in der Löwengrube auch heute gerettet werden.