Leute, regt euch nicht auf! Bäume vertragen was. Das bisschen Kettensägenmassage steckt eine erwachsene Linde locker weg. Äste ab, ratzeputz? Der nackte Stamm, wie bei der da drüben am Friedhofseingang? Na und? Da kannst Du fast daneben stehen bleiben und warten, wie sie ihre ersten Nottriebe schiebt. Im übernächsten Sommer sieht das schon richtig grün aus. Die tellergroßen Schnittstellen werden dann auch längst nachgedunkelt sein und viel weniger auffallen. Das Laubfegen im Herbst geht dann ratz-fatz über die Bühne. Und bei den Faulstellen, die es vielleicht mal geben könnte, soll mal einer beweisen, dass das was mit unserer etwas gründlicheren Schnibbelei zu tun hat.
Ich erlaube mir, auszusprechen, was ehrbare Mitbürgerinnen und Mitbürger, geleitet durch ihre Interessen wahrscheinlich denken. Und ich muss zugeben: meine Mitbürger haben recht. Schwerverletzte haben mitunter ein langes Leben.
2014 wird uns der Erste Weltkrieg von 1914 noch reichlich auf allen Kanälen begegnen. Und ehrlicher als früher wird vom Schicksal der Opfer dieses ersten industrialisierten und wissenschaftlich verfeinerten Völkermords auf Gegenseitigkeit die Rede sein. Die meisten Toten hatten es bald hinter sich. Die Schwer- und Schwerstverwundeten mussten weiter leben, manche noch ein halbes Jahrhundert lang. Die alten Schwarz-Weiß Filme sind inzwischen aus den Geheimarchiven heraus gekramt. Wir haben die Wahl zwischen deutschen, französischen, englischen Dokumenten: überall dieselbe Horrorgalerie: die Schüttler, deren Körper nie mehr zur Ruhe kam, die jungen Menschen ohne Gesichter, ohne Münder; von ordinären Amputationen, leeren Augenhöhlen und dergleichen gar nicht zu reden. Sie haben alle weiter gelebt.
Ihre Herzen und Gehirne waren noch jung und überlebenswillig. Aber was für ein Leben das war, für sie selbst und für die, sie ihnen ganz nahe standen, ich denke, das ahnen wir. Und die Hilfsmaßnahmen waren lächerlich, aufs Ganze gesehen. Hier die Propagandafilmchen von den Armamputierten, die vorn an ihren Prothesen allerlei feinmechanisches Werkzeug anmontiert hatten und jetzt in der Fabrik für den Sieg schrauben durften – und daneben die Realität der Beinamputierten, die sich auf ihrem Rollbrettern jahrelang Almosen erbettelnd durch die Städte schoben.
Der Vergleich ist grob. Aber ist er falsch? Falsch im Sinne der Biologie, der Wissenschaft vom Leben? Ein Mensch braucht alle Sinne und alle Gliedmaßen, die ihm in einem Krieg ruiniert werden können. Nichts davon war entbehrlich. Jede nicht wirklich verheilende Wunde ist ein bleibender, die Lebenskraft schwächender Einschnitt. Nichts ist wie vorher. Und niemand hat die Höllenfahrten aufgeschrieben, die Ungezählte erduldet haben.
Ein Baum ist uns Menschen darin gleich, dass nichts an seiner biologischen Ausstattung überflüssig ist. Alles was er ist und kann, braucht er, um seinen Platz im Kreislauf des Lebens auszufüllen. Er mag nach einer irreparablen Tortur noch eine Reihe von Jahren weiter leben. Aber eine Linde ohne arttypische Krone ist ein menschengemachtes Monstrum und keine Linde. Sie wird nicht imstande sein, ihre biologische Aufgabe als Heimat für viele Lebewesen, als Nahrungsquelle, als Erzeugerin von Sauerstoff, als Klimahelferin usw. usw. auszufüllen.
Und natürlich auch nicht ihre schönste Aufgabe: nämlich der im Gedächtnis unseres Volkes lebendige besondere Baum zu sein, unter dem sich Jung und Alt treffen können, um die Gemeinschaft der Menschen hoch leben zu lassen. Aber letzteres ist den Lindenhackern und ihren Auftraggebern wahrscheinlich sowieso egal.