Fastenaktion 2013, 2. März
Zu seinen Lebzeiten habe ich „Knut“ nie getroffen. Ich bin zwar Zoo-Fan, aber dieser leicht hysterische Massenaufmarsch vor dem Eisbärjungen in Handaufzucht im Zoo Berlin hat mich zuverlässig abgehalten. Da waren mir hin und wieder ein paar Fernsehbilder, gut kommentiert, wirklich lieber. Nebenbei: in den Zoos von Nürnberg und Wuppertal konnte ich mich in jüngster Vergangenheit am Anblick von Eisbärennachwuchs erfreuen, ohne das Risiko, totgetreten zu werden oder andere tot zu treten.
Jetzt durfte ich Knut sehen: dem Kindchenschema entwachsen, mit dem keilförmigen Schädel eines jungerwachsenen Eisbärenmanns, auf einem nackten Felsen hockend, als Dermoplastik im Naturkundemuseum. Dermoplastik, das ist mehr als ein moderner Ausdruck für das, was im Heimatmuseum meiner Kindheit ein „ausgestopftes Tier“ war. Dermoplastiken präsentieren die Tiere in ihrer echten Körperhülle, wie das Fremdwort sagt, also Knut im Knut-Fell. Aber darüber hinaus erreichen die Fachleute in den Präparatorenwerkstätten heute durch nachmodellierte Körper eine Echtheit des Ausdrucks, die wirklich anrührend sein kann.
Vielleicht musste die Kreatur „Knut“ erst im Museum landen, um sein zu können, was eigentlich der Beruf aller Zootiere ist: Lehrerinnen und Lehrer im Fachgebiet „Kreisläufe des Lebens und menschliche Schöpfungsverantwortung.“ Was jedenfalls die schrillen und die bunten Blätter zu Knuts Lebzeiten über die um ihn zusammengedrängten Besuchermassen, ihre manchmal rekordverdächtig unbiologischen Ideen zu berichten wussten, deutet nicht auf besonderen Lernerfolg hin.
Dabei kann sich ein Eisbär an jeder technischen Hochschule sehen lassen. Sein Fell ist ein Wunderwerk evolutionärer Anpassung an den Extrem-Lebensraum Arktis. Lange tarnfarbene weiße, eingeölte und hohle Haare. Sie umschließen ein kuscheliges warmes Luftpolster. Siebzig Grad minus? Kein Problem für den Isolierkünstler. An den Fußsohlen wird die schwarze Haut sichtbar: ein natürlicher Wärmespeicher! Menschliche Ingenieure für Isolationstechnik eifern Knut nach.
Aber vielleicht findet Knut heute die Arbeit als Botschafter ja wichtiger als die Beratertätigkeit im Ingenieurbüro. Klimabotschafter und Botschafter der arktischen Meere in einer Person. Dem Langstreckenwanderer rund um den Pol schmilzt ja der Lebensraum Jahr für Jahr mehr unter den Tatzen weg. Schlimm für ein Wundertier, das so gar nicht dafür geschaffen scheint, künftig nur noch auf den Mülldeponien der kanadischer Städte am Rande der Arktis zu überleben. Knut weiß es nicht, aber wir wissen es: die globale Erwärmung der Gegenwart ist vor allem anderen von Menschen gemacht. Wie es heute schon für die Eisbären eng und lebensfeindlich wird, so werden auch Abermillionen Menschen die Suppe auszulöffeln haben, die wir uns mit unserer unzivilisierten Zivilisation Tag für Tag einbrocken.
Heute noch Eis, morgen offenes Meer. Auf diese Klimawandelfolge setzen die Größten der Ölbranche unverblümt. Ob kapitalistisch wie Shell oder staatskontrolliert wie Gazprom, beide wollen in diesem Jahr in eisfrei gewordenen Zonen der Arktis mit Probebohrungen beginnen. Dabei wissen sie die Regierungen der Arktis-Anrainer USA, Kanada und Russland auf ihrer Seite. Wenn ein Bohrunglück nach dem fatalistischen Motto „Shit happens“ passieren sollte: nirgendwo auf Erden wäre es aussichtsloser, etwas dagegen tun zu wollen als in diesem Lebensraum. Die Achselzucker unter uns seien vorab daran erinnert, dass die arktischen Meere Heimat und Lebensgrundlage einiger der wichtigsten Fischpopulationen des Planeten sind. Denen könnte dann niemand mehr helfen; und natürlich auch all den Geschöpfen nicht, die Fische zum Leben brauchen.
„Riskier was, Mensch! Sieben Wochen ohne Vorsicht!“. Das Motto der Fastenaktion 2013 darf um keinen Preis missbraucht werden, um technologischem Scheuklappen-Optimismus das Wort zu reden. Was wir riskieren müssen, ist vernünftiger und verantwortungsbewusster Verzicht. Den gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn ich dazu beitragen möchte, vom Lebensraum, vom Schöpfungsraum Arktis zu erhalten, was noch erhalten werden kann, dann muss ich der Schöpfung ein Angebot machen: mein Auto, mein Heizungsmanagement, meine Ernährung, meine Urlaubsgewohnheiten, meine Müllproduktion. All das geht ein in die Energiebilanz der Menschheit, beeinflusst politische Zwänge oder Spielräume. Von nix kommt nix. Aber von etwas kommt gut und gern etwas mehr.
Wer, so wie ich, den animalischen Popstar „Knut“ nie getroffen hat, für den habe ich zum Schluss einen Tipp: geht doch mal in den Zoo Osnabrück und besucht „Tips“ und Taps“, zwei Eisbär-Braunbär-Mischlinge. Einst unplanmäßig im Zoo gezeugt, werden sie heute in einer wirklichen Lernschau präsentiert als lebende Mahner des Klimawandels. Denn inzwischen gibt es solche Hybriden, bedingt durch den Lebensraumverlust der Eisbären, auch in der subarktischen Wildnis. Wie das alles zusammenhängt, zeigen die cleveren „Klimahöhlen“, die in die Anlage integriert sind.