Ich habe nie Steuern hinterzogen. Ich hatte nie die Gelegenheit dazu. Außer meinem Gehalt als kirchlicher Arbeitnehmer habe ich nie steuerpflichtige Beträge dazu verdient. Ob aus Stolz oder Bequemlichkeit, weiß ich selbst nicht genau. Ich habe nie eine Aktie besessen. Ich kenne nur das harmlose Vergnügen, alle Jahre wieder ein paar hundert oder auch mal tausend Kröten aus dem Jahresausgleich zurück zu bekommen. Aber auch das ist absehbar wie das Amen in der Kirche. Vom ersten Schülerjob an, mehr als ein halbes Jahrhundert ereignislose Beziehungen mit dem Finanzamt: das sichert mir die Eintrittskarte für die Tribüne der Steuer(selbst)gerechten. Von dort dürfen wir zuschauen, wie da unten in der Arena etliche unserer lieben Reichen in rascher Folge an den Kurzzeit-Pranger für Steuersünder gestellt werden, jeder und jede nicht gar zu lange. Die Warteschlange ist lang.
Nun also Alice Schwarzer! Strafrechtlich unbefleckt, weil sie eine etwas ausgedehntere Steuerhinterziehung hinter den sieben Schweizer Bergen rechtzeitig gesetzeskonform aus dem Weg geräumt hat. Mit der wohl illegalen Indiskretion eines Informanten muss sie leben. Das bringt eine mediale Biographie als moralische Instanz mit sich.
Sonst noch was? Soll ich als langweiliger Durchschnitts-Steuerbürger jetzt von einer moralischen Ohnmacht in die andere fallen, nur weil Mutter „Emma“ als „Fall“ zügig einem angesehenen Zeitungschef gefolgt ist; oder weil – welche Enthüllung – sogar irgend ein politischer Amtsträger persönlich mit dem geknausert hat, „was des Kaisers ist“ – weil Uli H. tatsächlich eine etwas größere location anmieten müsste, wollte er all die, die etwas zu hinterziehen hatten, zu einer Sause einladen?
Ja, ja, ich weiß, dass unsere Gemeinschaft die Steuern braucht, auch und gerade die hinterzogenen. Sie braucht sie für eine lange Liste menschenfreundlicher Zwecke – und auch für einige, die mir zuwider sind. Die Betroffenen haben sich ihren Stress, gegebenenfalls auch ihre Strafen redlich verdient. Aber das ist es dann auch.
Denn ich kenne den Blick in den Spiegel. Der, den ich da sehe, hat zwar keine Affäre mit dem Finanzamt. Aber er hat ausreichend charakterliche und in der Auswirkung dann auch moralische Defizite, um sein Tun und Lassen in das grelle Licht der Unglaubwürdigkeit zu tauchen, sobald Enthüllungsprofis sich ans Werk machen würden. Wohl nichts, was einen Staatsanwalt mobil machen könnte, aber genug, um Vertrauen zu zerstören, ohne dass ich außerhalb der eigenen vier Wände in meiner kleinen Welt nichts bewegen könnte.
Und damit bin ich der Normalfall! Der Normalfall eines Menschen, der sein Leben nicht vertun will, trotz der Knüppel, die er sich selbst immer wieder zwischen die Beine wirft. Ich bin darauf angewiesen, dass mein Einsatz für das Gemeinwohl zählt, obwohl meine moralischen Niederlagen nur notdürftig getarnt sind.
Wenn denn gleiches Recht für uns alle gilt, werde ich auch prominente Steuerhinterzogenhabende nicht anders wahrnehmen dürfen – besonders die, die es mit ihrer Mitwelt gut zu meinen scheinen. Mutter „Emma“ hat unserer Gesellschaft alles in allem gut getan, ja, das hat sie. Und mancher, der mit ihr das aktuelle strafrechtliche Problem teilt, auch. Die gnadenlose Geste des Daumensenkens mag zum Ritus der Mordspiele in Roms antiker Arena gehört haben. Einer Rechtsgemeinschaft schuldanfälliger Bürgerinnen und Bürger steht sie nicht an. Wir fahren alle besser, wenn wir Unrecht auch Unrecht nennen, aber das Gute aus der Lebensleistung unserer Mitmenschen festhalten, sie seien prominent, oder Frau und Herr Jedermann. „Das Gute behalten“, dies biblische Motto ist kein Freibrief, sondern ein Ansporn, diese Rücksicht persönlich möglichst selten in Anspruch nehmen zu müssen.