Siebzig, die runde Zahl findet Beachtung als Geburtstag, weniger als Erinnerungstag an historische Ereignisse. Da hört sich 75 irgendwie historischer an. Letztes Jahr war das so beim 75. Jahrestag der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs.
Die 70. Wiederkehr eines Tages, der nicht vergessen werden darf, hat freilich den Vorteil, dass Redaktionen, Schulen und Kirchen noch einigermaßen mühelos Zeuginnen und Zeugen auftreiben können, die damals keine Kinder mehr waren. So am 16. April 1945, heute vor 70 Jahren, beiderseits der Oder. In fünf Jahren, am 75. Jahrestag, wird es erheblich schwieriger sein, seinerzeit 20 jährige Rotarmisten und deutsche Soldaten zu fragen, wie sie diesen finalen Großangriff des Krieges überlebt haben. Eigentlich war da ja kein Überleben möglich und auch nicht vorgesehen, nicht unter deutschen Stahlhelmen.
Die bloße Aufzählung der kriegerischen Ressourcen an Menschen und Waffen auf Seiten der Hauptangriffstruppe, der 1. Weißrussischen Front der Marschalls Schukow, klingt kaum fassbar. Der mörderische Wind des Nazikrieges kehrte sich als vernichtender Orkan gegen Berlin, seinen Ursprungsort.
Am frühen Morgen des 16. April begann noch einmal ein maßloses Blutbad. Wer ein wenig mehr als nichts davon weiß, hat die Ortsangabe Seelower Höhen im Gedächtnis. Vielleicht auch noch, dass deutsche Befehlshaber allerletzte taktische Spielräume nutzten, um die jungen Männer der anderen Seite in Massen in den Tod laufen zu lassen. Aber der Kanonendonner war trotzdem binnen Kurzem in Berlin zu hören. Bis heute ist die Erde zwischen der Oder und Berlin gespickt mit den kriegsarchäologischen Fundstücken jener Apriltage. Aber trotz ihrer den Krieg beendenden Auswirkung und ihrer ungeheuerlichen Dimensionen, hat diese letzte Schlacht keinen Platz im kollektiven Gedächtnis gefunden: kein Stalingrad, so gar weniger erinnert, als die folgenreiche Episode um die Rheinbrücke von Remagen.
Dabei war die wenige Tage später beginnende Eroberung Berlins militärisch nicht viel mehr als das zwangsläufige Ergebnis der Oderschlacht; eigentlich sind die letzten Tage in Berlin keine Schlacht mehr zu nennen, weil dafür militärische Grundvoraussetzungen fehlten. Ein kriegerischer Organisationsgrad, wie er auf deutscher Seite am 16. April noch gegeben war, hätte das Blutvergießen in Berlin unabsehbar verlängert.
Das und ein wenig mehr im Sinn, bin ich vor wenigen Jahren auf den Oderdeichen, mal auf deutscher, mal auf polnischer Seite im goldenen Herbst durch die ehemalige Kampfzone geradelt. Der Landschaft wegen, nicht der Kriegsgeschichte.
Schautafeln an den Rastplätzen rühmten die Modernisieung der Deiche nach der großen Oderflut von 1997. Aufmarsch und Schlacht vom April 1945 wurden den Wanderern nicht unter die Nase gerieben. Es wäre auch arg viel verlangt gewesen, wenn sich vergnügte Leute das höllische Szenario von damals in ihre friedfertige Urlauberwelt bald 70 Jahre danach hinein rücken lassen sollten. Ja, die Waffen schwiegen, endgültig und unwiderruflich. Der Krieg meiner Kindertage tat so, als habe er sich spurlos aus dem Staub gemacht. Ich kann ihm das nicht glauben. Aber die Augen mussten es so sehen, bei den Höhen von Seelow.
Die Waffen schweigen weiter. Und alle in Europa beteuern, dass es so bleiben muss. Gleichzeitig haben die alten Römer Konjunktur: „Si vis pacem, para bellum“. Wenn du den Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor! Kein Hitler weit und breit! Weder im Kreml noch sonst wo. Nur Machtpolitiker, die sich furchtbar verzocken können, nicht nur im Kreml. Darum treiben auch wir, Rechtsnachfolger des Hakenkreuzstaates, symbolische Aufrüstungspolitik. Aber für eine menschengemachte Apokalypse braucht es längst nicht mehr die Millionenheere von vor 70 Jahren. Der Joystick ersetzt zunehmend den Marschallstab. Das Odertal wird als Aufmarschgelände nicht mehr gebraucht.
Aber damit die Waffen ihre Sprachen endgültig verlernen, braucht es das, wofür es am 16. April 1945 hoffnungslos zu spät war: Miteinander reden, reden, reden.