Frühsommermorgen vom Feinsten! Unwiderstehliches Fahrradwetter, noch dazu Sonntag. Die Straße gehört mir und meinesgleichen. Die Berufspendler liegen noch im Bett – bis auf die Brötchenholer, die auch für popelige tausend Meter den Zündschlüssel herum drehen.
Also gönne ich mir den etwas längeren Weg zum Gottesdienst in der nahen Stadt. Ein bisschen viel Monotonie auf den Feldern. Die Biosprit-Industrie boomt. Aber in der Luft immer noch mehrere Rotmilane auf dem Suchflug. Hoffentlich werden sie satt.
Zum Gottesdienst komme ich auf letzten Drücker. Die Organistin hat schon die Start-Up-Zigarette ausgedrückt und sich an ihren Arbeitsplatz begeben. Auch sonst niemand mehr im Vorraum. Ich greife mir ein Gesangbuch vom Ständer und trete ein, begleitet von den ersten Takten des Orgelvorspiels.
Es sind nur wenige Sekunden, während denen ich überlege, ob ich wieder gehen soll. Der geräumige morgenhelle Kirchsaal ist ja leer! Aber im letzten Augenblick trifft mich der Blick der Frau, die ganz hinten links sitzt. Weil ich schon manches mal hier war, kennen wir uns vom Sehen. Und dann nehme ich auch die anderen wahr. Später notiere ich im Gedächtnis: sie waren Fünf ohne Pastor und Organistin mit ihrer Anwesenheitspflicht. Ich bin Nummer sechs und lasse mich unfroh auf einem Stuhl nieder.
Nun bin ich alt genug, um die Erosion der herkömmlichen Kirche als Zeitzeuge und Leidtragender miterlebt zu haben, in Deutschland Ex-West und Ex-Ost. Aber diese Gemeinde hier hält sich doch manches auf ihre Lebendigkeit zugute! Sie hat ihrer Kirche sogar Führungspersonal geliefert und soll mitunter junge Familien und helle Köpfe anziehen.
Aber selbst wenn ich alle ungünstigen Zufallsfaktoren zu gute halte; an diesem Wunderwettermorgen repräsentieren wir für dieses Kirchspiel eine Gottesdienstteilnahme von 0,2-0,3 Prozent – je nachdem, ob ich mich als Auswärtigen mitzählen soll oder nicht. Das junge Paar, das ziemlich in der Mitte des Raumes sitzt, drückt dabei immerhin den Altersschnitt auf einen hoffnungsvollen Wert.
Der Pastor drückt ihn wieder in die Höhe: ein bärtiger Greis, leicht gehbehindert. Aber der Mann ist kein Dauerproblem, nur einer der Lückenbüßer während einer pfarrerlosen Zeit. Eine Neue, ein Neuer steht ins Haus. Man wird nicht vergeblich suchen. Die Gemeinde hat ihre Pluspunkte.
Die Predigt an diesem sechs-Leute-Sonntag gehört nicht dazu. Nicht, weil der Alte unvorbereitetes Zeugs vom Stapel lässt. Von „Hölsken auf Stöcksken“ kommt er auch nicht. Aber das seelsorgerliche Fingerspitzengefühl muss ihn verlassen haben.
Ich verstehe, dass er es lohnend findet, der Gemeinde nach und nach das Apostolische Glaubensbekenntnis zu erklären. Verglichen mit vielen dieser begrifflichen theologischen Antiken ist unser staatliches Grundgesetz von kristallener Klarheit. Heute, in diesem menschenleeren Gottesdienst, hat der Ersatzmann sich vorgenommen, den Halbsatz „Ich glaube an die heilige christliche Kirche“ zu entfalten. Er folgt offensichtlich einem simplen Ablaufplan: eins nach dem anderen.
Er hat nicht den Mut, sein Manuskript auf die Seite zu legen und mit den Leuten statt über die Kirche aus der Sicht des 5. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung, darüber nachzudenken, wie wir überhaupt von neuem Kirche werden. Wenn auch die Treuen und die Fleißigen, die eine Gemeinde selbstbewusst über eine Vakanzzeit hinweg hieven, Gottesdienste eher als homöopathische Dosis zu sich nehmen, dann ist das ein hoch ernstes Symptom, mindestens das. Gottesdienst ist für eine Christengemeinde nicht Alles, wirklich nicht. Aber er ist eine der Herzkammern, zu der hin das Leben fließt – und wieder von dort in den Alltag und die Welt. Wir sechs, verteilt auf fünf ziemlich weit voneinander entfernte Stuhlreihen, konnten zu wenig davon spüren. Ob der Alte das gemerkt hat?