Unerwartet und ohne mein Zutun ist die dicke Akte in meine Hände geraten. Nahe Verwandte hatten sie nach einer Jahre zurückliegenden Wohnungsauflösung bei einer verstorbenen Tante im Haus und konnten wenig damit anfangen: sorgfältig abgeheftete Briefe meiner Großmutter, Jahrgang 1884, gestorben 1966, an ihre Tochter, eben diese Tante, beginnend 1947, bis 1954. Ausgedruckt reichlich 200 Seiten, schätzt meine Frau, die sich energisch ans Abschreiben gemacht hat.
Dabei hilft ihr, dass Oma noch zur den Generationen gehörte, die in der Schule Zensuren im Schönschreiben bekamen. Da bleiben selbst Texte entzifferbar, die in Notzeiten und unter Stress auf Zettelchen hingeworfen wurden, deutlich kleiner als ein Stück Toilettenpapier. Nebenbei, Oma hat der Tante 1953 eines meiner Zeugnisse kopiert: „Schönschreiben: mangelhaft!“ Ich darf doch sehr bitten! Fast alle Leute, die in den 60 Jahren danach meine Handschrift lesen mussten, hatten nix zu meckern. Im Gegenteil, der Mangelhafte von einst ist beinahe zum Vorbild mutiert.
Aber lassen wir das! Immerhin zeigt das kleine Blitzlicht, dass fast alles in Omas Briefen Familienangelegenheiten sind, die heute der Nachwelt keineswegs mitgeteilt werden müssen. Ich verstehe mich und uns hoffentlich ein wenig besser: Urteile über meine toten Allernächsten werden hoffentlich ein wenig begründeter, ehrlicher, verstehender. Aber das mag allenfalls etwa 25 Menschen berühren, die heute meine weitere Familie ausmachen.
Anderes verdient aber doch ein gesellschaftspolitisches Lesezeichen. Die prägenden, schmerzenden Lernerfahrungen der Erwachsenen jener Tage, die mit wiederkehrenden Notständen zu tun haben; mit Notständen, angesichts derer wir uns auch heute konstruktiv oder destruktiv verhalten können, wie seinerzeit.
Wir waren Flüchtlinge. Deutsche immerhin; bis vor kurzem noch Volksgenossen, jetzt einfach Landsleute. Aber uneingeladene evangelische Schlesier im erzkatholischen Münsterland, im Königreich des ruhmreichen Kardinals August von Galen. Als Oma zu schreiben begann, hatte sich die ungeheuerliche Menschenmenge von Flüchtlingen, Vertriebenen, Ausgewiesenen noch keineswegs gesetzt oder in den zwangsweisen Aufnahmeregionen irgend wie zurecht gerüttelt. Wie auch? Weit mehr als 10 Millionen Menschen, in absoluten Zahlen der größte Flüchtlingshaufen der Geschichte – wenn auch im Zahlenverhältnis zu den Ortsansässigen weniger Menschen, als 2014 syrische Flüchtlinge im Libanon. Ein paar Klicks auf dem Taschenrechner liefern den Beweis.
Behördliche Einweisungen in die Gesindezimmer von Bauernhöfen oder gar in Teile der Bauernwohnungen sind uns und den stolzen Westfalen erspart geblieben. Vater war Pfarrer für die Flüchtlinge und wurde gebraucht. Einer der Berufe, die zum Konfliktmanagement, persönlichem wie öffentlichem, gefragt waren. Also fanden sich nach einer kurzen Übergangszeit Quartiere, die man auch heute Wohnung nennen dürfte. Eng, schlecht geheizt, oft kein Strom und Wasser, aber was hieß das schon 1946/47? Pfarrers und Pfarrers Kinder mussten lernen, reichlich Nachbarn unter dem gleichen Dach zu haben. Eine Umstellung auch für Oma, Superintendentenwitwe. Ich selbst war noch nicht auf „Pfarrhaus“ geprägt und konnte nichts vermissen.
Es wird mir immer klarer: das rasch improvisierte, dann immer solider organisierte Gemeindeleben der evangelischen Schlesier und Ostpreußen mit ihren grauslichen Dialekten kann den Münsterländern kaum Vertrauen erweckender vorgekommen sein, als dem Durchschnittsdeutschen von 2014 das Geschehen hinter den Türen einer Moschee! Egal ob dieser Landsmann noch Mitglied einer christlichen Kirche ist oder nicht. Die fließend Deutsch sprechenden Flüchtlinge von 1947 waren nicht Anhänger einer anderen Konfession, sondern einer anderen Religion, so das fromme Bauchgefühl. Keine Marienfeste, kein Fronleichnam, keine Fastenzeit, kein Namenstag, kein Papst, der Erzketzer Luther – und schwangere Frauen im Pfarrhaus.
Und dieses Abschaum-Christentum wurde noch nicht einmal diskret versteckt, in Privatwohnungen, auf Waldlichtungen, in Hinterzimmern von Wirtshäusern. Die Eindringlinge legten es auch noch darauf an, zum frühest möglichen Zeitpunkt, nur sechs, sieben Jahre nach ihrer Invasion, die ersten eigenen Stützpunkte zu bauen, Gemeindehäuser, immerhin noch keine Kirchen.
Es hat gekracht, immer wieder. Aggressive Verteidigung des religiös-kulturellen Territoriums; aggressive Forderung nach gleichen Rechten in der entstandenen Zwangslage. Und die ersten Grenzgängerinnen und Grenzgänger, fast immer junge Leute, haben dafür gezahlt. Auch die Pfarrer, die nicht selten nur die Berufsbezeichnung gemein hatten, haben den ersten allerseits unerwünschten Liebespaaren aus Alt- und Neufamilien schwere, wahrhaft lieblose Lasten aufgebürdet. Tragödien, die im Rückblick über zwei Generationen hilfloses Kopfschütteln auslösen.
Millionen Landsleute, die noch klar im Kopf sind, haben das meiste von dem als Knirpse miterlebt, worauf es unverändert ankommt, wenn Flüchtlinge und Einheimische aufeinander treffen.
Gut, wir waren ehemalige Volksgenossen des Nazistaates, als unsere ehemaligen Volksgenossen im Westfalen unsere Ankunft verdauen mussten. Ganz so offensichtlich ist die gemeinsame Vorgeschichte von Einheimischen und Flüchtlingen heute nicht. In unserer zum Guten wie zum Bösen vernetzten Welt dauert es ein wenig länger, bis wir auf Fluchtauslöser wie Waffenexporte, Weltmarkt-Hungerlöhne, Umweltdesaster made by man stoßen, samt den Links zu unseren Tun und Unterlassen.
Aber es wäre gewiss eine gute Idee, rechtzeitig die wertvollen, überaus nützlichen Erinnerungen zu sammeln: die Erinnerungen an Frauen, Männer, Dorfvereine, Schulmeister, auch Kirchenleute, die fähig waren, damals gegen die klebrige öffentliche Meinung zu handeln, damals, als Oma ihre Briefe schrieb. Dann klappt´s auch besser mit den Flüchtlingen!