30 Millionen fromme Menschen an ein und demselben Tag an ein und demselben Ort. Da wird ein Evangelischer Kirchentag zum bescheidenen Dorffest. Die Kumbh Mela der Hindus in Allahabad am Zusammenfluss von Ganges und Yamuna ist, wie wir kümmerlichen Europäer erfahren, das größte Pilgerfest der Welt. Selbst die Hadsch der Muslime zur Kaaba in Mekka kommt da nicht mit.
Während die Muslime in Weiß zu ihrem Heiligtum gehen, vom Milliardär bis zum Ziegenhirten, stürzen sich die Hindu-Männer, vom Minister bis zum Handwerker, nahezu nackt in die heiligen Gewässer, um der kostbarsten Verheißungen ihres Glaubens teilhaftig zu werden; ein Geschenk, dass sie nur alle zwölf Jahre ergreifen können.
Égalité, Gleichheit, war einer der Kampfrufe der religionsabweisenden Französischen Revolution. Über die Tagesschau präsentieren uns heute gleich zwei Weltreligionen eindrucksvolle, überaus körperliche Gesten für ihre Überzeugung von der Gleichrangigkeit aller ihrer Gläubigen. Wo in ihrer Lehre und Praxis die Widersprüche aufbrechen, mögen sie untereinander ausmachen. Leider kenne ich aber keine ähnlich alltägliche Geste, mit der wir Christenmenschen die Égalité der Töchter und Söhne Gottes zum Ausdruck brächten.
Aber lassen wir das. Bei der Berichterstattung über die Kumbh Mela ist mir neben den atemberaubenden Zahlen noch etwas anderes aufgefallen. Alle Redaktionen, ob Presse, Radio oder Fernsehkanäle, haben sich entschlossen, das Interesse ihrer Leser, Hörer und ZuschauerInnen wachzukitzeln durch reichliche Schilderung des heiligen Dreckwassers, das hierzulande augenblicklich von jedem Gesundheitsamt gesperrt würde. Was sollen die armen Medienleute auch machen? Sie haben ja so gut wie keine Chance, ihrer Kundschaft in 20 Sekunden oder auch in einer vollen Minute einen seriösen Crashkurs in hinduistischer Glaubenshoffnung und -Praxis zu verpassen. Diese fremde Lebenswelt bleibt unvermeidlich fremd. Eine Prise Skandal eignet sich da prima als Ersatz. Also ran ans heilige Beinahe-Abwasser!
Nicht, dass der Zustand der Badestellen nicht auch von indischen Behörden und Bürgerinitiativen als gewaltiges Problem beschrieben würde. Diese Leute klagen nicht nur, sie tun auch das Menschenmögliche. Aber der Hygienenotstand wird für Indiens Hindu-Volk nicht zum Aufmacher für die Kumbh Mela. Er bleibt eine komplizierte Begleiterscheinung.
Insbesondere bei meinen fernsehenden Landsleuten bin ich mir da nicht so sicher. Nicht wenige dürften in ihren Sesseln zurückgeblieben sein mit dem Gefühl „Igitt-igitt, diese Inder!“ Anscheinend doch Schmutzfinken, die man hier erst mal ins Badezimmer schicken müsste. Ein vorurteils-generiertes Gefühl: trotz vieler Berichte und Bilder vom Leben der Menschen einer künftigen Großmacht. Aber tu mal etwas gegen Vorurteile, wenn sie sich noch dazu mischen mit dem Dung von Abermillionen Heiliger Kühe!
Ja, für das Bad in der „Mutter Ganga“ brauchst du wohl ein gutes Immunsystem. Aber deshalb dem frommen Hindu die Schmuddelecke zuweisen? Mir kommen da ziemlich finstere Gedanken. Wir Christenmenschen baden in keinem verdreckten Fluss. Aber wir haben eine ziemlich verdreckte Kirchengeschichte: Völkermord, Raub, Folter, Heilige Kriege alias Kreuzzüge, Missachtung so gut wie jedes Menschenrechtes, Inquisition, Judenprogrome, furchtbare Irrtümer auch unserer Größten, z.B. Martin Luthers, eine entsetzliche Litanei, die zum Himmel stinkt.
Und trotzdem beten wir das Vaterunser und hoffen, dass seine Bitten sich erfüllen. Trotzdem lassen wir die unlösbar mit Jesus von Nazareth verbundenen Visionen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung nicht fallen.
Wer findet sich da in einem schmutzigeren Umfeld wieder, wenn es gilt, unsere Glaubenshoffnung zu demonstrieren und mitunter sogar zu feiern? Die Hindus oder wir?