Seit die Fotosatelliten den Spionageflugzeugen die Arbeit abgenommen haben, ist die Ausbeute meist Top Secret. Nur wenn wir Bürger von irgend einer Schandtat einer bösen Macht auf Erden überzeugt werden sollen, rücken die Regierenden sorgfältig vorsortierte Fotos von ganz hoch oben raus. Denn von oben kommt die Wahrheit. Es sitzt ja kein Zensor mit Schere und Radiergummi in den fliegenden Tonnen. Und sehen tun diese Adleraugen sowieso alles, was größer ist als ein Fliegenschiss. Einiges an diesem Image ist naiv, schlicht falsch.. Aber jeder, der alt genug ist, wird sich der eiskalten Faszination erinnern, die im Oktober 1962 ausging von den Luftbildern russischer Raketenbasen auf Kuba, damals noch aufgenommen von extra hoch fliegenden Flugzeugen.
Es ist nicht bei der militärischen Hinterhofguckerei geblieben. Kein Wetterdienst, kein Rohstoffkonzern, kein Umweltverband, die sich heute nicht längst via Satellitenfotos ihre Erkenntnisse und Argumente besorgten. Und die erlesenen Prachtbände mit den hinreißenden Farbbildern von Wolken, Bergen, Ozeanen, Wäldern, Städten füllen längst Regale.
Trotzdem war das für mich ein unerwarteter Rippenstoß: die Mutter aller Menschenrechtsorganisationen, Amnesty International, unterlegt ihre aktuelle Anklage der Terrorsekte Boko Haram in Nigeria mit Satellitenfotos, routinemäßig aufgenommen vor und nach dem Überfall der frommen Killer auf die Städte Baga und Doron Baga in Nord-Nigeria Anfang Januar 2015; nebenbei eine Erinnerung daran, dass die nicht ganz so speziellen Satelliten-Fotos längst ein Handelsgut geworden sind wie Tablets oder Tiefkühlhähnchen.
Satelliten-Fotos als Beweismittel gegen Menschenrechtsverletzungen, bisher gehörte das für mich eher in den weiteren Kreis nützlicher Indizien. Dürre von oben, ein für allemal abgeholzte Wälder; Gewässer, von Industriegiften in irre Farben getaucht, all das hat man schon gesehen. Aber niemals die Fingerabdruck eines Schreibtischtäters, die Fußspur eines Mörders.
Auch aus Baga und Doron Baga kann AI keine Täterfotos vorlegen. Aber wie eine bewohnte afrikanische Kleinstadt von oben aussieht und wie eine niedergebrannte und menschenleere, darüber kann es zwischen Fotoauswertern keinen vernünftigen Zweifel geben. Und als Städteverwüster ist Boko Haram in der Region konkurrenzlos.
Welchen Effekt die AI-Fotos noch haben werden ist ungewiss. Ob sie je dem Internationalen Strafgerichtshof als Beweismittel vorliegen werden und welche rechtliche Würdigung sie dann erfahren.
Als Alt-Aktivisten und Berufstätigem auf den steinigen Äckern von Menschenrechten und Kriegswaffenkontrolle bleibt mir die erfrischende Erfahrung, dass die elende Sache mit dem Dual-Use offensichtlich auch ihre Umkehrung kennt. Eigentlich sprechen wir ja dann vom Dual Use, der doppelten Nutzbarkeit, wenn ein Produkt der Chemie oder ein technisches System nicht nur für zivile, sondern auch für militärische Zwecke nutzbar ist. Wieviel Menschenkinder diese wohlfeile Tarnkappe der Rüstungsexporteure schon das Leben gekostet hat, kann nur ein Allwissender wissen.
Aber kluge und Wahrheit suchende Menschen können die von Hause aus militärische Satellitenüberwachung offensichtlich auch nutzen, um die Opfer schrecklicher Mordtaten aus der faktischen Unsichtbarkeit ins Licht der Weltöffentlichkeit zu rücken.
Experten mögen das schon länger wissen. Mir hat es gut getan, das jetzt zu begreifen.
20.01.15