Mein neues Fahrrad ist rot. Mit allem drum und dran, das man so von einem zeitgemäßen Drahtesel erwartet, außer dem E-Bike Equipment. Gegen diese technische Prothese wehrt sich mein mäßiger sportlicher Ehrgeiz auch noch im 76. Erdenjahr.
Aber Hand auf´s Herz: ob die Entscheidung für ein klassisches Herrenmodell wirklich klug war, muss sich noch zeigen. Den Schwung über die Stange muss ich noch üben, bis er wieder im ersten Versuch gelingt. Beliebig viele Stürze kann ich mir laut Medizinstatistik nicht mehr leisten. Heile Glieder werden im Alter zum nahezu wichtigsten Besitz. Schlimmstenfalls werde ich also die aufmunternde Aufforderung, die auf dem Sattel geschrieben steht: „Use“, „benutzen!“ ignorieren und eine Kleinanzeige ins Netz setzen müssen:
„Nagelneues Herrenfahrrad, rot lackiert, Ausstattung up-to-date, Länge 15 cm, Höhe 9 cm; Werkstatt Mahafaly, Madagaskar, umständehalber abzugeben, gegen Zusage einer Spende an ein Kinderrechtsprojekt, bevorzugt in Madagaskar.“
Aber noch ist es nicht soweit. Erst einmal animiert mich mein neues Rad zu ein paar Trockenübungen in Sachen Hüftschwung und Gleichgewichtssinn. Das bin ich allein schon der Agentin schuldig, die mir ganz unverhofft zu dem neuen Rad verholfen hat. Meine Frau war´s. Ihr Fahrradkauf hat es in sich, aus der Froschperspektive unserer Ehe! 25 Jahre mag es her sein, da schenkte mir eine Kollegin ein kleines Fahrrad, mit Geschick aus Draht zurecht gebogen, als Mutmacher für meine großmäulige Ankündigung, ich werde im Arbeitsalltag künftig möglichst oft das Auto stehen lassen und den Drahtesel zum Regelfall machen. Nichts, oder nicht viel – da scheiden sich die Geister – war es dann mit dieser Zusage. Mein Schatz jedenfalls fühlte sich eines Tages derart von meiner Autoabhängigkeit verschaukelt, dass sie das Gelöbnis-Rad von der Wand nahm und in einem Zornesanfall zerknautschte. Sie weiß es noch, als sei es gestern gewesen.
Inzwischen sind es 20 Jahre, die meisten davon bei überregionaler Berufstätigkeit, die das Fahrrad die Stellung hält als mein alleiniges privates Verkehrsmittel. Wie es dazu kam und warum es im konkreten Fall möglich und komfortabel ist, darf ich hier beiseite lassen. Mir freilich hilft es in unseren Lebensstil-Debatten doch sehr, wenn ich auf die Erfahrungen eines inzwischen ziemlich langen Lebensabschnittes verweisen kann. Leben ohne Privatauto ist möglich, auch wenn man in einem öffentlichen Beruf zurechtkommen und einige 10.000 km pro Jahr zurücklegen muss. Der Preis ist freilich die Erfahrung, dass es auch für einen Ex-Vielfahrer nach 20 praxislosen Jahren keine Rückkehr in das Leben hinter dem Steuer mehr geben kann. Also besser keinen Sturz leichtfertig riskieren durch die Wahl des falschen Modells und sei es noch so hip!
Meine Frau hat das Versöhnungs-Fahrrad bei einem Nostalgie-Besuch in einem Eine-Welt-Laden gekauft, den wir vor 40 Jahren als einen der ersten überhaupt mit Freundinnen und Freunden geöffnet haben, tief im Westen, in Herne. Dass wir unser Projekt damals „Weltmarkt“ nannten, tut mir im Rückblick gut. Der Faire Handel, wie wir heute sagen, wollte in seinen frühen Tagen für eine notorisch politische Wahrheit einstehen: Gerechtigkeit statt Almosen als Grundlage für die Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten. Geändert hat sich daran nichts, bis heute. Aber damals hatte die Forderung schon ihren politischen Neuigkeitswert.
Kaffee, Tee, aber zu wenige weitere Produkte in den frühen Sortimenten des Fairen Handels machten die Forderung nach gerechten Austauschbedingungen auf dem Weltmarkt sinnlich erfahrbar. Zu vieles andere konnte missverstanden werden – als eigentlich überflüssige Touristen-Souvenir-Ware, auch wenn die Hersteller von Muschelketten, Specksteintieren, allerlei hölzernen Masken in Kooperativen zusammen arbeiteten. Ich erinnere mich auch an das eine oder andere Spielzeug, das in den ersten Weltläden einen kurzen Modesommer erlebte und dann unverkäuflich wurde, auch, weil die Botschaft fehlte, die wir hätten weitergeben können.
Mein kleines rotes Madagaskar-Fahrrad dokumentiert mir den langen Qualifizierungsprozess, an dem Produzenten und Käuferschaft des Fairen Handels je ihren Anteil haben.
Das kleine rote Rad ist nicht stumm, wie zu viele Schnickschnack-Produkte der Frühzeit. Es erzählt eine Geschichte, die sich zu erzählen lohnt. Es erzählt von Phantasie und Geschick afrikanischer Eltern und Kinder, die seit jeher tolles funktionierendes Spielzeug aus dem herstellen, was sie gerade zur Hand haben. Keine bunte Blechdose, kein Autoreifen, kein Plastikteil, das sich unter geschickten Hände nicht verwandeln könnte. Was mancher Nachkriegs-Opa hierzulande für seine Enkel schuf, was heute buchstäblich museumsreif ist, kann afrikanischer Kreativität das Wasser reichen, und umgekehrt.
Mein Madagaskar-Fahrrad in der Hand, fällt es mir hoffentlich leicht, einer Gruppe von 2015-Kids den Recycling-Floh ins Ohr zu setzen. Und über das Fahrrad als Verkehrsträger der Zukunft lässt sich mit so einem netten Kick gewiss auch recht entspannt diskutieren.
Wer wann mit den madagassischen Blechkünstlern über die Nützlichkeit kleiner Fahrräder als gesellschaftlicher Orientierungshilfe in Deutschland gesprochen hat? Irgendwann ist das bestimmt geschehen, wenn ich mich an die nie endenden Qualifizierungsprozesse im Fairen Handel erinnere.
Den Pfiffikus, der ausgerechnet für Sattel einen Blechschnipsel mit dem Wörtchen „Use“ ausgewählt hat, würde ich gern kennenlernen.
So werde ich mir die Kleinanzeige schenken und mein flottes Madagaskar-Rad einstweilen auf unserem Esstisch parken. Nur der Kollegin, deren Motivationsrad aus grünem Draht einst im Müll landete, müssen wir beide wohl endlich gestehen, was damals geschehen ist.